Alexander Dobrindt, Vorsitzender der CSU im Bundestag, im Interview mit der Welt am Sonntag

Herr Dobrindt, müssen Sie nicht zugeben: Das Scholzen hat sich in der Panzerfrage gelohnt? 

Scholz hat endlich die richtige Entscheidung getroffen, die Panzerwende eingeleitet und dafür gesorgt, dass Deutschland nicht weiter blockiert. Sein zögerliches Verhalten bis dahin hat aber für eine erhebliche Verstimmung unter unseren Partnern gesorgt. 

Nun versucht er rückblickend, das Zögern als Strategie darzustellen, er habe eine Allianz geschmiedet. Das ist nicht glaubhaft. Umgekehrt ist es richtig: Die Allianz bestand schon, sie hat nur auf Scholz gewartet. 

Sie glauben also nicht, dass er ein sinnvolles Junktim zwischen der Lieferung amerikanischer Abrams- und der Leopard-Panzer geschaffen und damit die Amerikaner derart ins Boot geholt, dass sich die Sicherheit Deutschlands erhöht?

In Washington wurde darauf hingewiesen, dass man nicht durch Deutschland getrieben worden ist, sondern die Lieferung der Abrams eine unabhängige Entscheidung war. Es gibt dieses Junktim nicht. 

Teilen Sie die Befürchtung, dass nach der Lieferung der Leos Kampfflugzeuge, Fregatten und U-Boote folgen? 

Man darf jetzt nicht überziehen. Ich habe großes Verständnis für die ukrainischen Forderungen, aber wir können nicht alle Wünsche erfüllen, ohne unsere eigene Verteidigungsfähigkeit zu beeinträchtigen. Außerdem dürfen wir nicht die Gefahr erhöhen, dass sich die Kriegsschauplätze verschieben. 

Von daher rate ich der Ukraine, nicht sofort neue weitergehende Forderungen zu stellen und damit neue Erwartungen zu schüren. Wichtiger ist es nun, für einen kontinuierlichen Nachschub an bestehenden Waffen und Munition zu sorgen. 

Die Ukraine verschießt mitunter am Tag so viel Munition, wie Deutschland in einem halben Jahr produziert. Es ist also klar, dass sie Nachschub aus dem Westen braucht. Inwieweit sind wir darauf vorbereitet?

Wir haben im vergangenen Jahr gemeinsam mit der Ampel die Entscheidung zu dem 100 Milliarden-Euro-Paket für die Bundeswehr getroffen, ein Schwerpunkt darin ist die Beschaffung von Munition. Die Bundesregierung hatte zugesagt, noch im vergangenen Jahr, Munition im Wert von zehn Milliarden Euro zu beschaffen. 

Bis heute ist keine einzige Patrone bestellt worden. Deshalb gibt es einen erheblichen Nachholbedarf. Der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius muss jetzt zügig die Fehler seiner Vorgängerin korrigieren.
 
Wolfgang Ischinger hat vorgeschlagen, eine Art „Kriegswirtschaft“ einzurichten. Er meint damit, dass möglichst auf europäischer Ebene schnellstmöglich die Rüstungsfirmen beauftragt werden müssen, Munition für die nächste Monate zu produzieren. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Der Begriff ist schlecht gewählt. Kriegswirtschaft ist mir zu viel Kriegsrhetorik. Das klingt nach wirtschaftlicher Mobilmachung. Das entspricht nicht meiner Vorstellung. Politik muss nicht militärische Produktion übernehmen, sie muss nur dafür sorgen, dass das nötige Material und die Ausrüstung bei der Industrie bestellt wird. Dafür brauchen wir keine staatlich gelenkte Kriegswirtschaft. 

Die Industrie ist leistungsfähig aus sich heraus, sie braucht nur entsprechende Bestellungen. Ich rate auch gerade in dieser Phase, sensibel mit der Wortwahl umzugehen. Es gibt viel Bereitschaft in der Öffentlichkeit zur Unterstützung der Ukraine – auch mit schweren Waffen, aber sich in eine Kriegswirtschaft hineinzureden würde dieser Unterstützung sicher schaden. 

Baerbock spricht von einem Krieg, den wir gegen Russland führen?

Das ist eine beachtliche Fehleinschätzung für eine Außenministerin. Wir führen keinen Krieg gegen Russland, sondern unterstützen das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine gegenüber Putins Angriffskrieg! Baerbock sollte persönlich ihre Aussage dringend korrigieren.

Die Rüstungsindustrie produziert Waffen nicht von der Stange. Sie gleicht Manufakturen. Soll also ein Panzer hergestellt werden, muss ein Auftrag und eine Anzahlung erfolgen. Wie also kommen wir aus dem Dilemma heraus? 

Wir haben leider im vergangenen Jahr erheblich Zeit verloren. Der Chef von Rheinmetall hat erklärt, dass rund 100 Leopard 1- und 2-Panzer bei ihnen auf dem Hof stehen, aber nicht gefechtsfähig sind. Dafür muss nur ein Auftrag erteilt werden. Warum gab es diesen Auftrag bisher noch nicht? Die Bundesregierung muss nun schnellstens dafür sorgen, dass diese Panzer gefechtsfähig gemacht werden. Die Ukraine kann nur erfolgreich sein, wenn die kontinuierliche Nachlieferung von zerstörten Waffen sichergestellt ist.
 
Die Gasspeicher sind bei rund 80 Prozent derzeit gut gefüllt. War die Sorge über den Wirtschaftsstandort Deutschland übertrieben?

Die Sorge war und ist berechtigt. Es ist fahrlässig, der Bevölkerung eine Sicherheit vorzugaukeln nur, weil der Winter relativ mild verläuft. Die Kriegssituation in der Ukraine zeigt uns, dass wir möglicherweise über viele Jahre unsere Energieversorgung ganz anders organisieren müssen. Da reicht es nicht, auf neue Windräder zu verweisen. Unsere Energieprobleme sind eklatant. 

Deswegen gilt es, eine umsichtige Vorsorge zu betreiben und falsche Entscheidungen zu korrigieren. Eine davon ist, die letzten Kernkraftwerke zum 15. April abzuschalten. Um die Energiesicherheit auch im kommenden Winter zu gewährleisten, brauchen wir die Kernkraftwerke über den April dieses Jahres hinaus. 

Vereinzelte Stimmen aus der CDU fordern jetzt sogar den Neubau von Atomkraftwerken. Sie auch?

Es geht nicht um den Neubau von Kernkraftwerken der bisherigen Generation. Es geht darum, dass wir uns den neuen Technologien der Kernfusion und Kernspaltung nicht verschließen. Es ist heuchlerisch zu sagen, bei den erneuerbaren Energien setzen wir auf das deutsche Ingenieurwesen, aber beim Fracking und der Atomkraft sind wir nicht bereit, uns einzubringen. Ich halte es für zwingend notwendig, einen Bundes-Energie-Campus zu gründen, in dem vorurteilsfrei an den neuen Technologien geforscht wird. 

Viele Experten hatten im Dezember mit Blick auf die Energiepreiskrise vor einer Deindustrialisierung Deutschlands gewarnt. War das hysterisch? 

Robert Habeck versteht sich nicht als Wirtschafts-, sondern als Abwicklungsminister. Er scheint sich sogar noch darüber zu freuen, dass die Industrieproduktion in Deutschland im Verhältnis zur Gesamtwirtschaft deutlich nach unten geht. Für den Klimaschutz scheint ihm jeder Preis recht, selbst wenn damit eine schleichende Deindustrialisierung einhergeht. Das ist inakzeptabel für einen Wirtschaftsminister.

Ist das nicht überzogen? Schließlich steht die Regierung durch den Krieg in einer Ausnahmesituation.

Anstatt den Verlust wirtschaftlicher Standortqualität zu akzeptieren, hätte Habeck die Aufgabe, die Standortqualität für Industrie, Wirtschaft und Mittelstand zu verbessern. Das betrifft die Energiesicherheit und die Energiepreise. Das betrifft die steuerlichen Rahmenbedingungen: Deutschland braucht dringend eine Unternehmenssteuerreform, um international wettbewerbsfähig zu bleiben. 

Zudem sollte Deutschland Freihandelsabkommen voranbringen, vor allem mit den Vereinigten Staaten aber auch anderen Regionen. Und was ist mit den Superabschreibungen für Industrie und Mittelstand, die im Koalitionsvertrag vorgesehen sind? Bis heute sind sie nicht umgesetzt.

Sie haben das Fracking bereits erwähnt. Die Union ist dafür. Nur: Was soll durchs Fracking eigentlich gewonnen werden – Gas, Öl oder seltene Erden oder sogar alles davon?

Robert Habeck ist die personifizierte Doppelmoral, wenn er die Eröffnung von LNG-Terminals und die Lieferung von gefracktem Flüssiggas aus den USA feiert, das Fracking hierzulande aber kategorisch ausschließt. Wer sich über Fracking-Gas aus Amerika freut, muss auch die Bereitschaft haben, heimische Vorkommen zu nutzen. Das Nutzbarmachen von heimischen Gasvorräten würde unsere Versorgungssicherheit und unsere Glaubwürdigkeit den europäischen Nachbarländern gegenüber erheblich erhöhen.

Schön und gut, aber wo sollte gefrackt werden? 

Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die zeigen, wo heimische Gasvorkommen liegen. Sie müssen nur aus der Schublade geholt und die Machbarkeit neu bewertet werden – unabhängig davon, wo sie sich befinden. Es müssen unvoreingenommen die Möglichkeiten in ganz Deutschland geprüft werden. 

Würde der Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht wüten, würden die Deutschen derzeit die steigenden Flüchtlingszahlen debattieren, die ja fast das Niveau von 2015 erreicht haben. CSU-Innenminister Seehofer hatte eine Asylobergrenze von 200.000 Flüchtlingen ins Spiel gebracht. Gebietet die derzeitige Lage, erneut über Obergrenzen zu diskutieren?

Wir haben heute eine andere Situation. Es macht einen Unterschied, ob Frauen und Kinder aus dem Kriegsgebiet in unserer Nachbarschaft aus der Ukraine zu uns kommen oder Migranten aus dem Rest der Welt. Dennoch sehen wir, dass Kommunen mittlerweile an ihre Belastungsgrenze stoßen, was die Aufnahmemöglichkeit von Flüchtlingen angeht. 

Die Bundesinnenministerin tut hier leider deutlich zu wenig. Bis heute hat sie kaum Anstrengungen unternommen, mit den europäischen Partnern endlich zu einer gerechteren Verteilung der Flüchtlinge in der EU zu kommen oder auch nur dafür zu sorgen, dass Europas Außengrenzen besser gegen irreguläre Migration geschützt werden.

Das ist auch der vorherigen Regierung nicht gelungen. Muss man nicht offen eingestehen, dass Flüchtlingsproblem im Grunde nicht zu lösen ist? 

Es gibt sehr wohl Möglichkeiten, die Lage zu entspannen – durch einen wirksameren Schutz der EU-Außengrenzen, durch eine faire Verteilung der Flüchtlinge in Europa und durch die konsequente Rückführung abgelehnter Asylbewerber in die Herkunftsländer. Allen muss klar sein: Je höher die Flüchtlingszahlen sind, umso länger werden auch die Asylverfahren dauern und umso schwieriger werden die Rückführungen. Jetzt ist der Zeitpunkt, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. 

Friedrich Merz ist für seine Bezeichnung „kleine Paschas“ heftig angegriffen worden – dabei ist inhaltlich wenig an seinen Ausführungen auszusetzen. Wie empfinden Sie die Debattenkultur in Deutschland?

Wir erleben immer wieder dasselbe Muster: Bewusste Empörung über einen Satz oder ein Wort gepaart mit einer bewussten Überinterpretation, um am Schluss mit Stilfragen die inhaltliche Debatte zu ersticken. Diesem Mechanismus darf man nicht nachgeben. Dem Einzug der woken Kultur in die politische Debatte muss man nicht folgen. 

Wie Ihr Begriff von der „Klima-RAF“ bezeugt. Haben Sie bei der Wortwahl überzogen? 

Ich habe vor der Entstehung einer Klima-RAF gewarnt. Damit teile ich nur die Einschätzung von Tadzio Müller, einem Gründer von „Ende Gelände“, der bereits vor gut einem Jahr davon gesprochen, dass aus der Klimabewegung eine grüne RAF entstehen könnte, wenn sie sich nicht gehört fühlt. Ich bleibe deshalb dabei: Man muss die Dinge beim Namen nennen. Wer vor dem Wort Klima-RAF zurückschreckt, will die Augen vor der Realität verschließen.

Nach den Silvester-Ausschreitungen kam erneut die Forderung hoch, auf Schulhöfen solle konsequent Deutsch gesprochen werden. Inwiefern hätte dies Lage entspannt?

Es geht nicht darum, wie auf dem Schulhof gesprochen wird, es geht darum, was in der Klasse gesprochen wird. Die deutsche Sprache ist als der Schlüssel zur Integration zu begreifen und nicht – wie es im linken Lager gesehen wird – als Teil einer Umerziehung. Wer hier lebt, muss die Sprache beherrschen oder erlernen. Die erste Sprachausbildung muss in der Kita erfolgen. Die Ampel hat die Gelder dafür gestrichen. Das ist völlig unverständlich. Wer es ernst meint mit der Integration muss mehr und nicht weniger Geld in die Sprachförderung von Kindern investieren.

Die Sprache sollte außerdem die Grundlage für den Schulbesuch sein. Das heißt: Lieber ein Jahr später in die Schule gehen und dafür eine Chance auf Integration haben, als die Schule zu besuchen und festzustellen, dass man keine Integrationsmöglichkeiten hat. 

Die Berliner CDU wollte nach den Silvesterkrawallen die Vornamen von Festgenommenen deutscher Staatsangehörigkeit abfragen. Ist das ein rechtsstaatlich makelloses Vorgehen?

Auf jeden Fall ist die Aufregung darüber überzogen. In den meisten Fällen werden die Vornamen von mutmaßlichen Straftätern mitveröffentlicht. Von daher sehe ich in dieser Forderung kein Problem. Aber im Grunde muss die Diskussion eine andere sein.

Nämlich?

Wir sollten nicht nur in alte Muster verfallen und ausschließlich eine Integrationsdebatte führen. Wir brauchen vielmehr eine Rechtsstaatsdebatte. Die Wahrheit ist doch: Berlin hat ein Gewaltproblem auf seinen Straßen. Das hängt damit zusammen, dass der Berliner Senat das Chaos zum Lifestyle erklärt, anstatt den Polizeikräften den Rücken zu stärken und auf null Toleranz zu setzen. Wenn die Politik den Rechtsstaat nicht durchsetzen will, muss man sich nicht wundern, wenn auf der Straße die staatliche Autorität erodiert und Recht gebrochen wird.

Lassen Sie uns zum Schluss noch auf die Wahlrechtsreform kommen. Die Koalition wird ihren Vorschlag im Bundestag einreichen. Sie haben angekündigt, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Aus welchem Grund?

Die Ampel plant einen Systembruch beim Wahlrecht. Die Heimatstimme, sie sogenannte Erststimme, soll entwertet und damit der Wählerwille in vielen Wahlkreise missachtet werden. Wenn die Ampel ihren Vorschlag umsetzt, werden Wähler in zahlreichen Wahlkreisen in Deutschland erleben, dass der Wahlkreisgewinner nicht in den Bundestag einzieht. 

In Bayern könnte dies fast ein Viertel der Wähler betreffen. Das ist in keiner Weise akzeptabel und zeigt: Der Ampel-Vorschlag zur Wahlrechtsreform hat ein erhebliches Demokratiedefizit.

Bereut Ihre Partei, dass sie sowohl den Lammert- als auch den Schäuble-Plan zur Wahlrechtsreform ablehnte?

Wir haben in der vergangenen Wahlperiode einen Kompromiss zur Wahlreform mit der Reduzierung der Wahlkreise und weiterer Maßnahmen erreicht. Diese Reform hätte ihre volle Wirkung zur nächsten Bundestagswahl erreicht. Doch die Koalition will die Wahl nicht mehr abwarten. Sie setzt nun bewusst auf ein Modell, das im besonderen Maße zulasten von CDU und CSU geht. 

Wir haben der Ampel ein neues Angebot zur Verkleinerung des Bundestages mit einer erheblichen Reduzierung der Zahl der Wahlkreise gemacht. Es würde dazu führen, dass der nächste Bundestag bei einer Größe von rund 600 Abgeordneten läge. Darüber sind wir bereit, zu verhandeln.

Sehen Sie die Möglichkeit eines Kompromisses?

Jedenfalls ist unser Vorschlag ein kompromissfähiges Angebot, durch das keine Partei ungerecht benachteiligt oder begünstigt wird. Wenn die Ampel die Wahlrechtsreform dennoch gegen die größte Oppositionsfraktion durchdrückt, wird das Bundesverfassungsgericht über das Wahlrecht urteilen müssen. 

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