Grüne und AfD bekämpfen die Volksparteien und verkünden ihren Niedergang. Doch gerade in einer individualisierten Gesellschaft müssen wir bei großen Fragen in eine gemeinsame Richtung gehen, schreibt Alexander Dobrindt, Vorsitzender der CSU im Bundestag, in einem Gastbeitrag in der Welt.
Das Jahr 2019 ist ein Jahr der Entscheidungen. Mit der Europawahl im Frühjahr, mit der im Koalitionsvertrag vereinbarten Bestandsaufnahme der großen Koalition in der zweiten Jahreshälfte und mit wichtigen Landtagswahlen im Herbst. Bei all diesen Entscheidungen geht es um etwas Großes – um die Zukunft der europäischen Idee, um eine stabile Regierung für Deutschland, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Land. Es geht um Stabilität oder Fragilität.
Bei all diesen Entscheidungen werden wir erleben, wie destruktive Kräfte auf beiden Seiten des Parteienspektrums versuchen werden, diese Entscheidungen mit Drohkulissen und Ängsten in ihrem Sinne zu beeinflussen, zu verunsichern und zu destabilisieren. 2019 wird damit zu einer Bewährungsprobe der Volksparteien, sich dem entgegenzustellen und für Chancen statt für Ängste, für Optimismus statt Extremismus Mehrheiten zu gewinnen.
Das ist insbesondere die Aufgabe der Unionsparteien, von CDU und CSU. Sie sind als Parteien der jungen Bundesrepublik aus dem Optimismus heraus gegründet und haben eine jahrzehntelange Tradition, die Chancen in den Vordergrund zu stellen und dafür zu kämpfen, sie zu nutzen – für die soziale Marktwirtschaft, für die Montanunion und die Europäische Einigung, für die Westbindung und den Beitritt zur Nato, für die Gründung der Bundeswehr, für die Wiedervereinigung, für die Einführung des Euro. All diese Erfolge wurden errungen mit einer Politik des Optimismus gegen eine Politik der Angst, mit der von links außen und von rechts außen versucht wurde, diese wichtigen Weichenstellungen zu verhindern.
Volksparteien waren seit jeher die Chancenparteien der Republik. Linke, AfD oder Grüne sind hingegen Angstparteien. Die einen haben Angst vor der Marktwirtschaft, die anderen Angst vor Weltoffenheit, die Grünen pflegen gleich mehrere Ängste; ökologische, technologische, soziale. Sie haben die Angst zum Programm erhoben und Verbote, Bevormundung und Besteuerung zu ihrem Angst-Placebo.
Umso mehr darf es uns nicht unberührt lassen, wenn ausgerechnet diese Kräfte versuchen, die Volksparteien nicht mehr nur in ihren Positionen, sondern in ihrer Identität anzugreifen, und eine Debatte über das Ende der Volksparteien anstrengen. Hier haben die Grünen etwas mit der AfD gemein. Beide verkünden lustvoll den Niedergang der Volksparteien. Die einen, weil sie in Wahrheit selber die SPD als linke Volkspartei ablösen wollen. Die anderen, weil sie die Demokratie der von ihnen so benannten „Altparteien“ beseitigen wollen. Die AfD fundiert ihre Volksparteien-Apokalypse auf Ressentiments und Hass.
Die Grünen argumentieren soziologisch. Zentrale Ursache – so Grünen-Chef Robert Habeck – sei die Individualisierung. In der Gesellschaft der Einzelkämpfer sei eben kein Platz für Volksparteien. Es gebe „keinen gemeinsamen Erlebnisraum mehr“, das Versprechen der Volksparteien „Wir sind alle gemeinsam eins“ verfehle die Lebenswirklichkeit der Menschen.
Das klingt zunächst eingängig, ist aber grundfalsch. Genau besehen gilt sogar das Gegenteil. Die Individualisierung, die Lockerung von konfessioneller und soziokultureller Bindung hat Mitte des letzten Jahrhunderts die Entstehung der klassen-, schichten- und konfessionsübergreifenden Volksparteien überhaupt erst ermöglicht. Sie ist damit nicht der Sargnagel, sondern die Voraussetzung der Volksparteien. Damals wie heute.
Die richtige Antwort auf eine fragmentierte Gesellschaft kann nicht die Fragmentierung des Parteiensystems und die Reaktion auf die Individualisierung, darf nicht die Absage an das Verbindende und das Gemeinsame sein.
Gerade in einer individualisierten Gesellschaft ist es wichtig, dass wir bei den großen Fragen in eine gemeinsame Richtung gehen, dass jeder die Gewissheit hat, Teil eines Ganzen zu sein, Teil einer Nation und auch einer Europäischen Union mit gemeinsamer Kultur, gemeinsamer Geschichte, gemeinsamen Zielen und gemeinsamer Zukunft. Das ist die staatspolitische Funktion von Volksparteien. Sie sind der politische Ausdruck von Zusammengehörigkeitsgefühl, Freiheit, Heimatliebe, Weltoffenheit und gesundem Patriotismus.
Ausgleich, die DNA der Union
Volksparteien stehen damit nicht, wie Robert Habeck meint, für den „kleinsten gemeinsamen Nenner“, sondern für den größtmöglichen gesellschaftlichen Ausgleich. Dieser Ausgleich war insbesondere immer der Markenkern und die DNA der Union. CDU und CSU haben über Jahrzehnte zusammengefügt, was trennte, und zusammengehalten, was auseinanderzudriften drohte. Konrad Adenauer hat Katholiken und Protestanten zusammengeführt, Ludwig Erhard Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Franz Josef Strauß Tradition und Fortschritt, Helmut Kohl Ost und West.
Heute gibt es in unserer Gesellschaft neue Spannungsverhältnisse und Konfliktlinien. Zwischen denen, die Globalisierung und Internationalisierung als Wohlstandschance begreifen, und denen, die dadurch Heimat und Traditionen gefährdet sehen. Zwischen denen, die in der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft einen Fortschrittssegen sehen, und denen, die fürchten, abgehängt zu werden. Zwischen denen, die möglichst viele Hilfsbedürftige in Deutschland aufnehmen wollen, und denen, die sich um die Integrationsfähigkeit unseres Landes, um kulturelle Stabilität, Identität und Sicherheit sorgen.
Diese neuen Spannungsverhältnisse brauchen – mehr denn je – politische Leuchttürme der Klammern, der Narrative und Paradigmen. Interessenparteien können das nicht leisten. Sie wollen nicht verschiedene Positionen ausbalancieren, sondern ein Interesse durchsetzen: das ihrer Klientel. Sie suchen nicht den gesellschaftlichen Ausgleich, sondern ideologische Reinheit. Ihr politisches Weltbild ist geprägt von Gegensätzen: Ökologie oder Ökonomie, Multikulti oder Monokulturalismus, Grenzen auf für alle oder alle Grenzen zu.
Volksparteien gehen einen anderen Weg. Wo Gegensätze bestehen, suchen sie den Ausgleich. Wo Interessensparteien ausgrenzen, wollen Volksparteien integrieren. Starke Volksparteien sind deshalb das beste Gegenmittel gegen politische Polarisierung. Nur mit starken Volksparteien gibt es auch stabile Mehrheiten. Koalitionen aus drei oder vier Fraktionen machen keine Regierung besser und keinen Bürger freier. Im Gegenteil. Politische Verantwortlichkeiten werden unklarer, Kompromisse werden schwieriger, Politik wird frustrierender, und politische Ränder werden gestärkt.
Deutschland braucht deshalb keinen Abgesang, sondern eine Revitalisierung der Volksparteien. Für CDU und CSU bedeutet das, den Alleinvertretungsanspruch für die Mehrheit Mitte-rechts wieder selbstbewusst zu formulieren und programmatisch einzulösen. Wir müssen unsere drei Wurzeln – die christlich-soziale, die liberale und die bürgerlich-konservative – wieder gleichberechtigt nebeneinanderstellen. Eine zu starke Verengung auf die sogenannte Mitte führt zur Abwanderung von Wählern nach links und rechts. Unser klarer Anspruch muss es sein, allen Bürgern von der Mitte bis zur demokratischen Rechten eine politische Heimat zu bieten.
Dabei geht es nicht, wie manche meinen, um einen Rechts- oder Linksruck, sondern darum, unser angestammtes Wählerpotenzial wieder in seiner gesamten Breite anzusprechen. Die Grundvoraussetzung dafür ist, dass wir unsere Unterschiede innerhalb der Union als Stärke anerkennen, anstatt zu versuchen, sie zu bekämpfen. Dass Politik Diskussionen führt, anstatt sie zu vermeiden. Dass Probleme benannt und auch gelöst werden, anstatt sie zu verschweigen oder kleinzureden.
Dass Politik den Sorgen und Befürchtungen der Menschen Raum bietet, anstatt sie zum Tabu zu erklären. Dass Ängste adressiert, aber nicht geschürt und instrumentalisiert werden. Wir müssen extreme Parteien bekämpfen, aber nicht ihre Wähler. Sie wollen wir zurückgewinnen für das demokratische Spektrum und politisch integrieren.
Das können nur die Volksparteien. Als Unionsparteien sind wir seit Gründung der Bundesrepublik der parlamentarische Arm der bürgerlichen Mehrheit in unserem Land, Garant für Stabilität und Prosperität, für sozialen Ausgleich und Balance, für Chancen und Gerechtigkeit. Ich will, dass das so bleibt. CDU und CSU müssen sich als Gravitationszentrum der deutschen Politik behaupten, sonst gewinnen die Fliehkräfte an den politischen Rändern.
Wir können als Chancenparteien den Wettbewerb für uns entscheiden. Die Geschichte der Volksparteien ist mitnichten zu Ende, aber sie stehen vor einer der größten Bewährungsproben ihrer Geschichte. Diese Bewährungsprobe anzunehmen und sie zu meistern muss als Union unser Anspruch sein im Jahr 2019.
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