Alexander Dobrindt stellt klar: Bei steigendem Infektionsgeschehen geht es jetzt darum, dass Gruppen, die noch ungeimpft sind, geschützt werden. Festgelegte Schritte bei Inzidenzen von 50, 100 oder 200 sind überholt. 

Die vierte Welle ist da, Delta breitet sich aus. Welche Lage haben wir am Tag der Bundestagswahl am 26. September, womit rechnen Sie? 
Man kann da keine präzise Vorhersage treffen. Klar ist aber, dass wir zurzeit ein steigendes Infektionsgeschehen erleben. Das muss man ernst nehmen und sich darauf vorbereiten, weil wir noch eine große Gruppe von nicht-geimpften Menschen haben. 

Nächste Woche wollen Bund und Länder beraten, wie sie auf die steigenden Infektionszahlen reagieren. Braucht es eine neue Bundesnotbremse? 
Nein, aber wir brauchen eine neue Betrachtungsweise des Infektionsgeschehens. Die Inzidenz hat als singulärer Wert ausgedient. Wir müssen einen neuen Skalenwert entwickeln, der sich zusammensetzt aus dem Dreiklang: Intensivbetten-Auslastung, Impffortschritt und Inzidenz. Dabei muss es sich um einen fließenden Skalenwert handeln, der den steigenden Impffortschritt immer wieder neu einbezieht.   

Bei welcher Infektionslage müssen die Corona-Regeln wieder verschärft werden? 
Einen Automatismus darf es nicht mehr geben. Der neue Skalenwert kann die Richtung vorgeben, darf aber nicht automatisch politische Maßnahmen zur Folge haben. Die Erfahrungen auch in unseren Nachbarländern zeigen, dass ein weiterer Lockdown nicht notwendig ist. Bei steigendem Infektionsgeschehen geht es jetzt vielmehr darum, dass die Gruppen, die noch ungeimpft sind, geschützt werden. Festgelegte Schritte bei Inzidenzen von 50, 100 oder 200 halte ich für ausgedient. 

Ein erneuter Lockdown ist keine Option? 
Ich schließe einen erneuten Lockdown aus. Wir haben inzwischen über 50 Prozent vollständig Geimpfte und sollten alles daransetzen, die Impf-Dynamik wieder zu steigern. Ein Lockdown würde auch alle Geimpften betreffen. Dafür gibt es keine Rechtfertigung mehr, denn das Impfen ist der Weg in die Normalität. Bei hohen Infektionszahlen muss man vielmehr auf die Nicht-Geimpften schauen. Sie sind es, die dann möglicherweise Einschränkungen in Kauf nehmen müssen. Für Geimpfte sehe ich das nicht.

Ab wann müssen sich Ungeimpfte auf solche Schritte einstellen? 
Das kann nur der letzte Schritt sein und hängt besonders von der Entwicklung auf den Intensivstationen ab und von der Infektionslage in den Schulen. Hohe Ansteckung unter Schülern und eine starke Belastung des Gesundheitssystems können künftig dazu führen, dass es für Nicht-Geimpfte Einschränkungen geben kann. 

Was droht Ungeimpften konkret?
Die Normalität, die für Geimpfte herrschen muss, kann bei einer angespannten Infektionslage für Nicht-Geimpfte möglicherweise nicht gleichermaßen gelten. Es ist zum Beispiel vorstellbar, dass Hotels, Restaurants oder Kulturveranstalter ihr Angebot auf Geimpfte beschränken. Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir beim Impffortschritt mehr Dynamik entfachen. 

Was schlagen Sie konkret vor, um mehr Menschen zum Impfen zu bewegen? 
Wir müssen schnell zu einer Impfempfehlung für die 12- bis 17-Jährigen kommen. Wir brauchen die Botschaft, dass das Impfen in dieser Altersgruppe notwendig und zielführend ist. Wir brauchen zudem möglichst bald eine Zulassung des Impfstoffs für die unter 12-Jährigen. Die Untersuchung für die Altersgruppe findet aktuell statt und wir rechnen damit, dass bis November Ergebnisse vorliegen. Meine Erwartung an die Stiko ist, dass sie auf Basis neuer wissenschaftlichen Erkenntnisse dann zu einer Empfehlung kommt und immer eine Bereitschaft hat, sich selbst zu überprüfen. Momentan glaube ich, dass es notwendig wäre, eine Neubetrachtung der Impf-Empfehlung für die 12- bis 17-Jährigen vorzunehmen. 

Es sind ja auch noch viele Ältere ungeimpft. Was hilft da? Mehr Anreize? Mehr Angebote? 
Niedrigschwellige Angebote weiter zu steigern ist der richtige Weg. Wir brauchen mobile Impfteams dort, wo sich die Leute im Alltagsleben aufhalten. Ich kann mir Impfungen in Einkaufszentren, in Diskotheken, aber auch zum Beispiel vor Moscheen vorstellen. Jeder Ort, an dem wir Menschen erreichen, die sich bislang nicht für das Impfen interessiert haben oder keinen Termin buchen wollen, hilft uns, die Impfquote zu erhöhen. 

Viele Reiserückkehrer sind noch nicht geimpft.
Ich schlage vor, nicht nur Teststationen, sondern auch Impfstationen für Einreisende bereit zu halten. An Flughäfen und Bahnhöfen sollten nicht-geimpfte Reiserückkehrer schnell und unkompliziert ein Impfangebot bekommen. 

Die Corona-Schnelltests sollen ab Mitte Oktober kostenpflichtig werden. Ist das klug? 
Ich könnte mir das ab November vorstellen. Wer in den nächsten vier Wochen seine Erstimpfung bekommt, braucht sechs Wochen bis zur zweiten Dosis und weitere zwei Wochen bis zur vollen Wirksamkeit. Wenn wir jetzt die Impfangebote noch mal verstärken, dann ist es gerechtfertigt, die Tests im Laufe des Novembers kostenpflichtig zu machen. Kinder und Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können, bleiben aber weiter von den Kosten befreit.

Kann sich Markus Söder als bayerischer Ministerpräsident in dieser Zeit einen Vize leisten, der als Impfverweigerer auftritt, oder müsste er Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger entlassen?
Ob sich Hubert Aiwanger impfen lässt oder nicht, ist seine private Entscheidung. Als Politiker hat er allerdings eine Vorbildfunktion. Deshalb habe ich kein Verständnis dafür, dass er in Stil und Sprache inzwischen auf dem Niveau der Querdenker angelangt ist. Da sollte er dringend in sich gehen und seine Aussagen überdenken. Von einer „Impfapartheid“ zu sprechen, finde ich daneben. 

Trotz der großen Herausforderungen wie Pandemie, Jahrhundertflut und Klimakrise wirkt der Wahlkampf ideenlos und inhaltsleer. Was läuft schief?
Ich habe diese Woche einen Namensartikel begonnen mit dem Satz: „Ein Wahlkampf wie dieser braucht eine neue Orientierung.“ Der Wahlkampf beschäftigt sich aktuell zu sehr mit Nebenthemen wie Plagiatsvorwürfen und Haltungsnoten, aber nicht mit den großen Herausforderungen, die unser Land im 2020er-Jahrzent bewegen. So einen Wahlkampf habe ich tatsächlich nicht erwartet. Wir müssen jetzt klarmachen, worum es geht:
eine Richtungsentscheidung zwischen dem bürgerlichen Modell und dem linken Modell für Deutschland. 

Ihr eigener Kanzlerkandidat schwächelt ziemlich. Die Umfragewerte von Armin Laschet sind im Sturzflug, die Plagiatsvorwürfe gegen ihn reißen nicht ab und als prägendes Bild aus der Flutkatastrophe bleibt das eines lachenden Kandidaten. Droht eine Abwärtsspirale?
Armin Laschet steht zurzeit vor mehreren schwierigen Herausforderungen wie der Bewältigung der Folgen der Flutkatastrophe. Er hat die volle Unterstützung der CSU und wir arbeiten gemeinsam daran, dass die Union nicht nur stärkste Kraft wird, sondern dass gegen uns auch keine Regierung gebildet werden kann. 

Gehören zur vollen Unterstützung auch die regelmäßigen Querschüsse aus München, etwa, wenn Söder Laschet einen Wahlkampf im „Schlafwagenmodus“ vorhält?
Ich sehe da keine Querschüsse. Aber es ist unsere Verantwortung, darauf hinzuweisen, dass wir mehr Dynamik und maximale Mobilisierung für die Unionsparteien brauchen. Unser Ziel muss ein Ergebnis über 30 Prozent sein. Da ist noch Luft nach oben. Meine Erfahrung mit Wahlkämpfen in der Vergangenheit ist, dass sie deutlich dynamischer, härter in der Auseinandersetzung und mit Mut zum Unterschied geführt worden sind. Erfolgreich sind Wahlkämpfe, wenn sie die drei „M“s zusammenbringen: Mannschaft, Mut und Mobilisierung.

Söder rechnet mit einem „Wimpernschlagfinale“. Sie auch? 
Ja, es wird ein Foto-Finish geben. Nichts ist entschieden. Die Richtungsentscheidung bedeutet auch, dass nach wie vor eine linke Mehrheit aus Grünen, SPD und der Linkspartei genauso möglich ist wie eine Ampelkoalition oder auch Jamaika. Ich werbe sehr dafür, dass wir auch über eine Deutschlandkoalition reden aus Union, SPD und FDP. Sie hätte schon allein deswegen einen großen Vorteil, weil sie ohne eine Beteiligung der Grünen auskommt.

Könnte es sich die nächste Regierung leisten, mit den Grünen auf eine Partei zu verzichten, deren Markenkern der Klimaschutz ist?
Es gibt keinen Monopolanspruch der Grünen auf den Klimaschutz. Wir haben die Klimaziele in 2020 erreicht und sie bis 2045 deutlich verschärft. Wir setzen beim Klimaschutz auf Ambition, Anreize und Akzeptanz. Wir wollen für Klimaschutz begeistern, die Grünen wollen bestrafen. Wenn die Grünen fordern, sogenannte umweltschädliche Subventionen abzubauen, heißt das im Klartext: Autofahren und Fliegen verteuern, Pendlerpauschale angreifen und unsere Landwirtschaft bei Stromkosten und Agrardiesel massiv belasten. Das ist ein Angriff auf die Mitte der Gesellschaft – und damit auf diejenigen, die wir mitnehmen müssen, damit Klimaschutz in der Breite gelingt.   

Und das reicht?
Ich bin überzeugt, dass wir beim Klimaschutz noch schneller werden können. Ich halte einen früheren Kohleausstieg für richtig – gepaart mit einer aktiven Industriepolitik für die betroffenen Regionen, um den Strukturwandel durch die Ansiedelung neuer Unternehmen und attraktiver Arbeitsplätze zu bewältigen. Das kommt mir im bisherigen Kohlekompromiss zu kurz. 

Was halten Sie von den Plänen der Grünen, ein Klimaschutzministerium mit Vetorecht einzuführen?
Dieser Vorschlag der Grünen ist, diplomatisch formuliert, nicht durchdacht. Sigmar Gabriel nennt das „Volksverdummung“. Jedes Ministerium kann heute Gesetzentwürfe aufhalten. Was die Grünen anscheinend wollen, ist ein Oberaufseher für das Bundeskabinett.

Zwischen CDU und CSU gab es ziemlich Krach, ob es nach der Wahl Steuerentlastungen gibt. Können Sie das versprechen?
Ja. Unser Wahlprogramm hat eine klare Entlastungsagenda. Um aus der Krise herauszukommen, brauchen wir wirtschaftliches Wachstum und müssen eine neue Dynamik entfachen. Das geht nur mit Entlastungen von Unternehmen und der Mitte der Gesellschaft. Dazu gehört die Einführung eines Kindersplittings zusätzlich zum Ehegattensplitting und ein steuerlicher Entlastungsbetrag von 5.000 Euro für Alleinerziehende. Außerdem wollen wir eine Unternehmenssteuerreform, damit unsere Unternehmen den verschärften Wettbewerb auf dem Weltmarkt auf Augenhöhe führen können. Grüne und SPD verweigern diese Entlastungen. Beide wollen zum Beispiel das Ehegattensplitting abschaffen – und damit Steuererhöhungen für Millionen Familien in Deutschland.

Bislang überzeugt das noch nicht so viele. Was muss Laschet anders machen?
Wir erleben eine ungeheure Flexibilität bei den Wählerinnen und Wählern. Da sind die Merkel-Befürworter, die wegen Merkel die Union gewählt haben und jetzt bereit sind, sich neu zu orientieren. Und da sind die Merkel-Kritiker, die sich auch neu orientieren können. Beides birgt Chancen und Risiken. Um dieses Wählerpotential zu realisieren, braucht es eine überzeugende Erzählung zur Zukunft Deutschlands und den Mut, die Unterschiede zwischen den Programmen stärker zu betonen.  

Und was muss die CSU anders machen? Im letzten Bayern-Trend ist sie bei nur 36 Prozent gelandet. 
Beide Unions-Parteien liegen derzeit in den Umfragen unter ihrer eigentlichen Stärke. Natürlich sind wir nicht frei vom Trend, der gerade nicht für die Union läuft. In Bayern hat das auch mit den Freien Wählern zu tun. Jedem muss klar sein, dass eine Stimme für die Freien Wähler bei der Bundestagswahl eine Stimme für den Papierkorb ist und nicht für den Bundestag, da diese Partei bundesweit die Fünf-Prozent-Hürde nicht überschreiten wird.
 

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