Interview Der Spiegel 23.06.2018
Dobrindt: "Wir müssen ein Signal an die Welt geben"
Alexander Dobrindt
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In einem Interview mit dem Spiegel äußert sich Alexander Dobrindt zu den Verstimmungen in der Union.

Herr Dobrindt, im Herbst wählen die Bayern eine neue Landesregierung. Glauben Sie, dass die CSU besser abschneiden wird, wenn Sie vorher die Bundesregierung zu Fall bringen?

Das ist eine abwegige Frage.

Das ist die Frage, die sich stellt.

Im Koalitionsvertrag steht, dass sich die Flüchtlingssituation von 2015 nicht wiederholen darf. Das sicherzustellen, ist unsere gemeinsame Aufgabe in der Koalition. Über die Frage, was dafür zu tun ist, muss man in einer Regierung in aller Nüchternheit und Deutlichkeit sprechen können.

Sie haben der Kanzlerin ein Ultimatum gestellt, das ist in der Geschichte der Unionsparteien einmalig.

Wir haben der Kanzlerin ein Angebot gemacht: Wir verständigen uns auf eine Zurückweisung von Migranten an der Grenze, die bereits in einem anderen europäischen Land registriert sind. Das ist die Umsetzung von deutschem und europäischem Recht. Bringt der EU-Gipfel andere, aber wirkungsgleiche Ergebnisse, berücksichtigen wir das und bewerten die in Deutschland getroffenen Maßnahmen neu.

Der Beschluss des Parteivorstands besagt, dass der Innenminister Zurückweisungen an der Grenze auch ohne Zustimmung der Kanzlerin anordnen wird, wenn der Gipfel keine »wirkungsadäquaten Ergebnisse« bringt. Das ist kein Angebot, das ist eine Drohung.

Wir wollen, dass die Asylverfahren von Migranten in den Ländern stattfinden, in denen sie registriert worden sind, und Ordnung an unseren Grenzen hergestellt wird. Man kann das Anwenden der geltenden Rechtslage schlecht als Drohung bezeichnen.

Wäre es ein wirkungsadäquates Ergebnis, wenn Merkel eine grundsätzliche Einigung mit Ländern wie Griechenland und Italien erzielt, die dann vom Innenminister um gesetzt werden müsste?

Wirkungsadäquat heißt, dass Personen, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, unmittelbar dorthin zurückkehren müssen, um ihr Asylverfahren dort durchzuführen. Wenn die Kanzlerin auf dem Gipfel Vereinbarungen erreicht, die das so ermöglichen, hat das unsere Unterstützung. Sind solche Vereinbarungen nicht zu erreichen, wollen wir, dass die Zurückweisungen an der Grenze schnell umgesetzt werden.

Merkel hat bereits klar gestellt, dass in diesem Fall ihre Richtlinienkompetenz berührt wäre. Im Klartext heißt das, sie würde Seehofer entlassen. Was wäre damit gewonnen?

Im Jahr 2015 ist unter Berufung auf eine Notsituation das geltende Recht an unseren Grenzen ausgesetzt worden. Jetzt ist die Situation an unseren Grenzen so, dass wir geltendes Recht wieder ohne Abstriche anwenden können. Das zu tun, liegt in der Ressortverantwortung des Innenministers. Ich sehe da keinen Zusammenhang mit einer Richtlinienkompetenz.

Die Frage ist aber nicht, ob Sie einen Zusammenhang sehen, sondern ob die Kanzlerin ihn sieht. Das tut sie offensichtlich.

Das ändert doch nichts daran, dass ein Bundesinnenminister dafür Verantwortung trägt, an unseren Grenzen für Recht, Sicherheit und Ordnung zu sorgen.

Sie nehmen also in Kauf, dass ihr Parteivorsitzender aus der Regierung entlassen wird. Wäre dann auch die Fraktionsgemeinschaft zwischen CSU und CDU am Ende?

Für mich geht es immer noch um inhaltliche Fragen. Nicht um angebliche taktische Schachbrettspiele. Fakt ist: Wir haben eine tiefe Vertrauenskrise in der Gesellschaft gegenüber der Politik und der Handlungsfähigkeit unseres Staates. Mittlerweile erreichen doch unsere Bürger nahezu jeden Tag Nachrichten, die sie in ihrer Einschätzung bestätigen, dass wir die Lage nicht im Griff haben und teilweise eklatante Systemfehler bestehen. Diese Systemfehler abzustellen, sehe ich als gemeinsame Aufgabe der Unionsparteien. Wir müssen zeigen: Wir setzen nicht nur Recht, sondern wir setzen es auch durch.

Warum tun sie so, als würde an deutschen Grenzen permanent Recht gebrochen? Das ist der Sound der AfD.

Ganz und gar nicht. Wer eine rechtliche Situation an den Grenzen wiederherstellen will, die vor 2015 gegolten hat, der verhält sich konsequent. Damals hat man mit einer Sondersituation argumentiert. Jetzt besteht die Verantwortung darin, das damals gültige Recht wieder in Kraft zu setzen.

Sie weichen aus. Die Frage war, ob Sie die gegenwärtige Situation an der deutschen Grenze für rechtswidrig halten?

Wir nutzen die Möglichkeiten, die uns das deutsche und europäische Recht an unseren Grenzen gibt, nicht voll aus. Selbst Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wurde und die eine Wiedereinreisesperre nach Deutschland hatten, durften bislang unsere Grenzen erneut übertreten und haben ein neues Asylverfahren bekommen. Das ist absurd. Erst die Entscheidung von Horst Seehofer in dieser Woche, Personen mit Wiedereinreisesperre ab sofort zurückzuweisen, hat dafür gesorgt, diesen Zustand zu beenden.

Die SPD hat bei den Koalitionsverhandlungen klar gesagt, dass Zurückweisungen mit ihr nicht zu machen sei. Jetzt bringen Sie das trotzdem wieder aufs Tapet. Ist das Ihre Vorstellung von Koalitionstreue?

Der Masterplan ist die Antwort auf die offensichtliche Systemkrise um das Thema Migration. Ich bin überzeugt: Die Lösung dieser Systemkrise muss ein gemeinsames Anliegen aller Koalitionsparteien sein. Erkennbar macht ja auch die SPD Fortschritte bei ihrer Einschätzung der Migrations- und Flüchtlingsfragen, wenn die SPD-Vorsitzende formuliert: „Wir können nicht alle aufnehmen.“ Das ist für die CSU kein spektakulärer Satz; aber er zeigt, dass in der SPD erkennbar ein Prozess des Umdenkens stattfindet. Dass Sigmar Gabriel seine Partei in dieser Frage als „naiv“ bezeichnet, sagt doch schon viel aus.

Ihr Plan lautet also: Erst kippt die Kanzlerin, dann kippt auch die SPD.

Die wiederholte Nachfrage klingt schon fast nach Verweigerung der Sachargumente. Es geht aber um inhaltliche Fragen. Die Parteivorsitzende der SPD hat beim Thema Zurückweisungen übrigens deutlich gemacht: Es geht ihr nicht um das ob, sondern um das wie.

Sollte Europa überhaupt noch Flüchtlinge aufnehmen oder muss es einen generellen Asylstopp geben?

Wir stehen zu unserer humanitären Verantwortung und dem Grundrecht auf Asyl. Aber wir dürfen die Integrationsfähigkeit unseres Landes nicht überfordern. Dafür müssen wir stärker ran an die Wurzel der Flüchtlingskrise. Das heißt: Mehr Engagement bei der Bekämpfung der Fluchtursachen und mehr Unterstützung für die Transitländer – nicht nur finanziell, sondern auch durch die Einrichtung sicherer Schutzzonen. Diese Schutzzonen in außereuropäischen Ländern können ganz erheblich dazu beitragen, den Migrationsdruck zu verringern.

Halten Sie die Politik der neuen italienischen Regierung für richtig, Schiffe mit Flüchtlingen abzuweisen und gar nicht mehr in die Häfen einlaufen zu lassen?

Italien geht einen konsequenten Weg, um Schlepperkriminalität zu bekämpfen. Das halte ich für richtig.

Im Umkehrschluss müssten Sie die spanische Regierung dafür kritisieren, dass sie Schiffen Einfahrt gewährt, die in Italien abgewiesen wurden.

Schlepper bringen derzeit Flüchtlinge auf dem Mittelmeer ganz bewusst in Seenot, damit Rettungsschiffe sie nach Europa bringen. Das müssen wir beenden. Ein System, bei dem Kriminelle entscheiden, wer nach Europa darf, kann kein System sein, das der Staat unterstützt. Wir müssen das Signal an die Welt geben: Es geht nicht mehr, nur einen Fuß auf europäischen Boden zu setzen, um nach Deutschland kommen zu können.

Viele Christen, auch in Bayern, engagieren sich in der Flüchtlingshilfe. Was bringt es Ihnen eigentlich, wenn sie diese Wähler verlieren, weil sie im Kampf gegen die AfD immer weiter nach rechts rücken?

Mit einer Politik für Recht und Ordnung verliert man keine Wähler, sondern gewinnt Vertrauen zurück. Wir als Union haben die Aufgabe, das gesamte Spektrum von der politischen Mitte bis zur demokratischen Rechten abzubilden.

Sie sind in ihrer Wortwahl in den vergangenen Wochen zunehmend radikaler geworden, etwa mit dem Satz von der „aggressiven Anti-Abschiebe-Industrie“. Haben Sie nicht die Sorge, dass Sie im Kampf gegen die AfD selbst braune Spritzer abbekommen?

Ich mache das, was wir in der Vergangenheit immer für uns in Anspruch genommen haben: Wir wollen als CSU möglichst vielen Wählern eine Heimat bieten und gleichzeitig verhindern, dass sich eine Rechtsaußen-Partei dauerhaft etabliert. Heute kann man zweifeln, ob alle diese Position teilen.

Man hat den Eindruck, dass ihre Partei sich dabei Stück für Stück auf Positionen zubewegt, von denen man dachte, die gehören zur AfD. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat davon gesprochen, dass die Zeit des geordneten Multilateralismus am Ende sei. Ist das auch Ihre Position?

Ich bin mir sicher, dass die Aufgabe, Europa zusammenzuhalten, bedeutend komplexer ist, als die Politikergenerationen vor uns gedacht haben. Es wird neben europäischen Gemeinschaftsprojekten auch immer nationalstaatliche Eigenheiten und Souveränitäten geben. Auch unterschiedliche Geschwindigkeiten in europäischen Einigungsprozessen. An die Vereinigte Staaten von Europa glaube ich nicht, wohl aber daran, dass wir unsere nationale Souveränität nur erhalten, wenn wir bei den großen Themen europäisch zusammenarbeiten.

Man hat den Eindruck, dass die CSU mit reflexartiger Abwehr reagiert, wenn es Vereinbarungen gibt, die auf mehr europäische Zusammenarbeit abzielen, so wie in dieser Woche nach dem Treffen zwischen Merkel und dem französischen Präsidenten Emanuel Macron.

Da geht es nicht um Reflexe, sondern um die Überzeugung: Mehr Europa bedeutet nicht automatisch auch einen größeren Mehrwert für die Menschen. In der Meseberger Erklärung gibt es eine Reihe an offenen Fragen, die zwischen den Koalitionspartnern geklärt werden müssen. Dafür haben wir verlangt, dieses Thema in der kommenden Woche in einem Koalitionsausschuss zu besprechen.

Welche Teile der Vereinbarung stören Sie?

Wir lehnen eine Transferunion genauso ab wie eine Vergemeinschaftung der Sozialversicherungen oder eine Europa-Steuer. Wir sind für mehr Investitionen, aber wir sind dagegen, einfach nationale Investitionen anderer Länder zu ersetzen. Ob die Vereinbarung diesem Geist entspricht, das ist im Koalitionsausschuss zu klären. 

Finanzminister Olaf Scholz war an der Ausarbeitung der Erklärung beteiligt. Warum haben Sie Ihre Einwände nicht rechtzeitig eingebracht?

An der Ausarbeitung der Erklärung waren wir nicht beteiligt.

Was sagt es über das Verhältnis der Schwesterparteien aus, wenn der SPD-Finanzminister beteiligt wird, der CSU-Innenminister aber nicht?

Das bedeutet, dass die Arbeit und Mühe der gemeinsamen Abstimmung, die vor Verkündung der Erklärung versäumt wurde, hinterher unter nicht leichteren Bedingungen nachgeholt werden muss.

Egal wie der aktuelle Streit ausgeht: Wem wollen Sie noch weismachen, dass CDU und CSU in zentralen Fragen übereinstimmen?

CDU und CSU haben auch in der Vergangenheit eine Parallelität von großen Gemeinsamkeiten und starken Unterschieden gehabt. Uns zeichnet aus, dass wir in einer Art kooperativer Konkurrenz eine Meinungsbreite in der deutschen Bevölkerung erreichen, wie sonst keine politische Kraft. Auch in der Vergangenheit haben harte Auseinandersetzungen immer wieder dafür gesorgt, dass wir am Ende doch gemeinsam positive Entscheidungen vertreten konnten.

Viele Ehen gelangen an einen Punkt, wo beide Partner sagen: Wir hatten eine schöne Zeit, aber wir gehen jetzt besser getrennte Wege. Haben CDU und CSU diesen Punkt nicht längst erreicht?

Ich habe CDU und CSU immer als Schicksalsgemeinschaft beschrieben. Das trifft auch heute noch zu. Deswegen ist unser Ziel immer eine gemeinsame Linie für wichtige politische Entscheidungen. Dazu gehört, dass wir uns sowohl über unsere Haltung zu inhaltlichen Fragen als auch über die notwendigen Handlungen intensiv austauschen. Aber ob wir bei Haltung und Handlung jetzt eine gemeinsame Linie finden können, ist im Moment noch offen.

Haben Sie den Eindruck, dass Angela Merkel die Union auch noch als Schicksalsgemeinschaft sieht?

Ich kenne niemanden, der die Gemeinsamkeit von CDU und CSU nicht als Schicksalsgemeinschaft begreift. Ich will, dass das so bleibt. Aber es gehört auch zum Wesenskern des Schicksals, dass man vorher nicht weiß, was es alles noch so für einen bereithält.

Herr Dobrindt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

 

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