Rede zum Freizügigkeitsgesetz
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Freizügigkeit ist und bleibt der zentrale Bestandteil unseres gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraumes, von dem Deutschland als Exportnation besonders profitiert: Deutschland verkauft 60 Prozent seiner Exporte zollfrei innerhalb der EU. 40 Prozent unserer Exporte gehen in den Euro-Raum; sie sind sowohl von Zöllen als auch von teuren Währungsschwankungen befreit.
Die europäische Integration fördert aber nicht nur den deutschen Außenhandel. Unsere Wirtschaft profitiert auch von den vielen qualifizierten und motivierten Migranten aus der EU. Angesichts unserer überalternden Bevölkerung und der geringen Geburtenrate kann daran auch kein Zweifel bestehen.
Von 3,1 Millionen EU-Bürgern, die letztes Jahr in Deutschland lebten, waren 146 000 arbeitslos gemeldet. Das entspricht knapp 5 Prozent aller Arbeitslosen in Deutschland. Die große Mehrheit der ausländischen EU-Bürger in Deutschland arbeitet, zahlt Steuern und Sozialabgaben und trägt zu unserem Wohlstand bei.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ihr Freizügigkeitsrecht bleibt völlig unbestritten.
Trotzdem muss man klarstellen, dass es in den EU-Verträgen kein uneingeschränktes Recht auf Freizügigkeit gibt. Wir Bundesbürger haben ein unbedingtes bzw. unbeschränktes Freizügigkeitsrecht nur innerhalb Deutschlands, aber nicht in der gesamten EU. In den EU-Verträgen heißt es wörtlich:
Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich … vorbehaltlich der … in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen … Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.
Diese Durchführungsvorschriften sollte unter anderem die Freizügigkeitsrichtlinie näher definieren. Ihre Vorgaben sind allerdings ungenau. Das Resultat ist, dass es auf nationaler Ebene teilweise erhebliche Rechtsunsicherheiten gibt.
Fest steht aber, dass die Mitgliedstaaten gewisse Handlungsspielräume besitzen, um die Freizügigkeit auszugestalten und zu steuern. Darauf hat auch die Kommission immer wieder hingewiesen.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie trotzdem Artikel 15! Das ist zwar ein bisschen verworren geschrieben, aber ziemlich rechtsklar!)
– Herr Kollege Beck, ich kenne die Artikel, aber ich glaube, Sie kennen sie nicht alle. – Artikel 35 der Freizügigkeitsrichtlinie erlaubt den Mitgliedstaaten ausdrücklich, Herr Kollege Beck,
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Maßnahmen!)
Missbrauch und Betrug im Rahmen der Freizügigkeit zu bekämpfen.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)
Aus Artikel 7 der Richtlinie geht zudem hervor, dass speziell das Freizügigkeitsrecht von Personen, die nicht arbeiten, an Bedingungen geknüpft ist.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wie weit reicht es?)
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nutzt die Bundesregierung ihren rechtlichen Spielraum und zieht wesentliche erste Schlüsse aus dem Bericht des Staatssekretärsausschusses zur Armutsmigration.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn:
Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck zu?
Andrea Lindholz (CDU/CSU):
Ich glaube, ich komme noch zu dem Punkt. Aber wir können es gerne schon vorher diskutieren. Die Zeit wird ja angehalten.
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn:
Ja. Gut.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Würden Sie mir zustimmen, dass in Artikel 35 der Freizügigkeitsrichtlinie, auf die Sie sich gerade bezogen haben, anders als in Artikel 15 das Wort „Wiedereinreisesperren“ nicht vorkommt? Dort heißt es nämlich:
Die Mitgliedstaaten können die Maßnahmen erlassen, die notwendig sind, um die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug – wie z. B. durch Eingehung von Scheinehen – zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen.
Das ist eine abschließende Aufzählung. Dann heißt es weiter, „solche Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein“ und sich „nach den Artikeln 30 und 31“ im Verfahrensrecht richten.
Damit ist eindeutig klar, dass Artikel 15 die Spezialregelung ist, und diese regelt die Wiedereinreisesperren abschließend aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit. Das, was Sie vorgetragen haben, betrifft aber nicht öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Andrea Lindholz (CDU/CSU):
Herr Kollege Beck, Sie wissen doch, dass wir dazu eine völlig andere Rechtsauffassung haben. Sie sprechen jetzt schon konkret die Wiedereinreisesperren an, die wir in § 7 Absatz 2 des Freizügigkeitsgesetzes betreffend die Fälle des § 2 Absatz 7 des Freizügigkeitsgesetzes regeln.
Da ist bereits festgestellt, dass keine Freizügigkeit mehr besteht. Die Rechtsexperten, die nach unserer Auffassung die korrekte Rechtsauffassung vertreten, sehen Artikel 35 der Freizügigkeitsrichtlinie als Lex specialis zu Artikel 15 der Freizügigkeitsrichtlinie, den Sie gerade so schön zitiert haben.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber leider ist es gerade umgedreht! Das ist kabarettreif: Artikel 35 als Lex specialis zu Artikel 15?!)
Da steht ausdrücklich, dass wir die Konsequenzen daraus ziehen dürfen. Das tun wir in § 7 Absatz 2, Herr Kollege Beck, indem wir Wiedereinreisesperren gegen diejenigen verhängen, die nach § 2 kein Freizügigkeitsrecht mehr haben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
Ich gehe davon aus, dass wieder Professoren oder möglicherweise auch Richter darüber zu befinden haben werden, wer nun am Ende recht hat.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Viel Spaß bei den Verhandlungen!)
Wir sind der Auffassung: Unsere Regelungen sind europarechtskonform.
Herr Beck, Sie haben sich schon mit meinem Vorgänger, Herrn Geis, immer auseinandergesetzt. Ich sage immer wieder: Dass wir diese Tradition fortsetzen, freut zumindest die Bürgerinnen und Bürger in meinem Wahlkreis.
Ich setze nun meine Rede fort. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nutzt die Bundesregierung ihren rechtlichen Spielraum und zieht wesentliche erste Schlüsse aus dem Bericht des Staatssekretärsausschusses zur Armutsmigration. Sie setzt ein wichtiges Signal, indem sie sagt: Betrug und Missbrauch werden nicht toleriert. Darüber hinaus greift die Bundesregierung den Kommunen bei den Kosten unter die Arme. Das geschieht im Wesentlichen mit fünf Maßnahmen.
Erstens werden im Falle von Betrug und Rechtsmissbrauch Wiedereinreisesperren ermöglicht.
Zweitens wird das Aufenthaltsrecht von EU-Bürgern zur Arbeitsuche auf sechs Monate befristet. Warum? Weil auch hier Artikel 7 der Freizügigkeitsrichtlinie nur die ersten drei Monate regelt. Danach werden sehr strenge Anforderungen gestellt, wann und unter welchen Voraussetzungen jemand in einem Land bleiben darf. Er muss nämlich seinen Lebensunterhalt weitestgehend selbst sicherstellen. Indem wir die Geltungsdauer des Merkmals der Arbeitsuche von drei auf sechs Monate verlängern, kommen wir den Menschen sogar entgegen. Dass eine begründete Aussicht auf Arbeit bestehen muss, ist aus meiner Sicht gerechtfertigt, genauso wie die Tatsache, dass darüber verschiedene Stellen zu befinden haben. Denn es gibt unterschiedliche Anspruchsgrundlagen: Möchte jemand Arbeitslosengeld beziehen, oder bezieht er nur Kindergeld, oder braucht er nur Unterstützung von der Krankenkasse? Wir werden sehen, sehr geehrter Herr Kollege Castellucci, ob sich die Regelungen in der Praxis bewähren oder ob Nachbesserungsbedarf besteht. Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich das für richtig.
Drittens sorgen wir dafür, dass Doppelzahlungen beim Kindergeld vermieden werden. Indem bei jedem Kindergeldantrag die steuerliche Identifikationsnummer angegeben werden muss, geben wir den Behörden die Möglichkeit, leichter Überprüfungen vorzunehmen.
Viertens wird die Bekämpfung von Schwarzarbeit und Scheinselbstständigkeit verbessert, indem die zuständigen Behörden besser vernetzt werden. Die Gewerbeämter sollen künftig schon beim ersten Verdacht auf Scheinselbstständigkeit prüfen und Verdachtsfälle direkt an die Finanzkontrolle Schwarzarbeit beim Zoll melden.
Fünftens werden die Kommunen mit zusätzlichen 35 Millionen Euro unterstützt. Diese Unterstützung ergänzt das bereits im März in Folge des Zwischenberichts beschlossene Entlastungspaket für die Kommunen in Höhe von über 200 Millionen Euro. Dazu wurde das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ aufgestockt sowie Programme des Europäischen Sozialfonds und ein EU-Hilfsfonds so zugeschnitten, dass vor allem die stark belasteten Kommunen von diesen Programmen in den nächsten Jahren profitieren können.
Die Bundesregierung und der Bundestag packen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf offensichtliche Probleme im Rahmen der europäischen Freizügigkeit an. Die kommunalen Spitzenverbände begrüßen ausdrücklich, dass wir uns endlich mit den Problemen der Armutszuwanderung aus der EU befassen. Die Kommunen werten unsere Initiative als wichtigen ersten Schritt in die richtige Richtung. Auch das haben uns die Sachverständigen von der kommunalen Ebene in der Anhörung am 13. Oktober bestätigt.
Der Gesetzentwurf kann nur ein erster Schritt sein. Wir alle wissen, dass es unklar ist, ob und unter welchen Bedingungen ein EU-Bürger, der sich zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten darf, in dieser Zeit Anspruch auf Hartz‑IV‑Leistungen hat. Deutsche Gerichte haben in dieser Frage aufgrund widersprüchlicher Vorgaben in den Richtlinien unterschiedlich geurteilt. Das Urteil des EuGH im Dano-Fall wird am 11. November wohl für etwas mehr Klarheit sorgen.
Gerichte sollten allerdings nicht die Rolle des Gesetzgebers übernehmen. Die demokratisch legitimierten Institutionen in Europa sind gefordert, in so weitreichenden Fragen Rechtssicherheit zu schaffen. Auf nationaler Ebene unternehmen wir heute einen ersten Schritt im Rahmen des Aufenthalts- und Freizügigkeitsrechts und schaffen etwas mehr Rechtssicherheit. Nach dem Dano-Urteil müssen weitere Schritte folgen.
Wir wollen und brauchen die Freizügigkeit in Europa. Die öffentliche Akzeptanz dieses Rechts ist aber keine Selbstverständlichkeit. Es steht außer Frage, dass weitere Schritte kommen müssen. Auch die offene Frage, ob EU-Bürger in Deutschland für ihre im Ausland lebenden Kinder Kindergeld in voller Höhe wie in Deutschland bekommen sollen, gehört für mich dazu. Die Politik auf europäischer und nationaler Ebene trägt Verantwortung dafür, dass eine Akzeptanz sichergestellt wird. Mit diesem Gesetzentwurf tragen wir dazu bei. Ich bitte Sie daher heute um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
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