25.02.2010
Hilfe zur Selbsthilfe statt zu alimentieren
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Rede zur Grundsicherung

4.a) Beratung Antrag BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bedarfsgerechte Regelsätze für Kinder und Erwachsene jetzt ermöglichen
- Drs 17/675 -
4.b) Beratung Antrag DIE LINKE.
Weg mit Hartz IV - Für gute Arbeit und eine sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindestsicherung
- Drs 17/659 -
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen
 
Ich bin gerade von meinen Fraktions­kollegen gebeten worden, nicht so laut zu schreien wie mein Vorredner. Das werde ich auch nicht tun.
 
Ich bin betrübt über den Gang dieser Diskussion. Die Probleme der Betroffenen rechtfertigen, dass wir ge­meinsam versuchen, uns zusammenzuraufen und das Ur­teil des Bundesverfassungsgerichts konstruktiv zu be­werten.
 
Was höre ich von der Opposition? Nur Polemik. Lie­ber Kollege Ernst, Sie haben das Urteil des Bundesver­fassungsgerichts nicht gelesen, oder Sie haben es gele­sen, es aber nicht verstanden. Sie proklamieren hier ein bedingungsloses Grundeinkommen bzw. einen Mindest­satz von 500 Euro. „500 Euro“ steht nirgendwo im Ge­setz. Sie würden mit dem, was Sie in Ihrem Antrag for­dern, genau denselben Fehler machen, den das Bundesverfassungsgericht moniert hat: dass die Sätze pauschal, ohne detaillierte Berechnung festgelegt wur­den.
 
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
 
Lieber Kollege Ernst, es ist nicht schlimm, wenn man Fehler macht; aber wenn man Fehler, die man als solche erkannt hat, wiederholt, dann ist das bedenklich. Herr Ernst, Sie kommen aus Schweinfurt; das ist nicht weit weg von Würzburg. Wir können uns gerne einmal unter­halten; vielleicht kann ich Ihr Wissen in dieser Richtung dann etwas mehren.
 
Meine Damen und Herren, auch Ihre Behauptung, dass Hartz IV von der falschen Voraussetzung ausgehe, dass die Menschen grundsätzlich nicht arbeiten wollten, stimmt nicht. In dem Urteil des Bundesverfassungsge­richts wurde dargestellt – ich darf mit geneigter Erlaub­nis des Präsidenten zitieren –:
Das Leistungskonzept des Sozialgesetzbuchs Zwei­tes Buch sei in Übereinstimmung mit Art. 1 Abs. 1 GG auf Eigenverantwortung durch Einsatz der Er­werbsfähigkeit orientiert mit dem Ziel, dem Hilfe­bedürftigen schnell zur Sicherung seiner eigenen Existenz zu verhelfen. Ein Pauschbetrag fördere die Eigenverantwortung bei der Verwendung der Sozialleistung.
 
Das heißt, in seinem Urteil hat das Bundesverfassungs­gericht etwas von Hilfe zur Selbsthilfe geschrieben, nicht aber davon, zu alimentieren und ein bedingungs­loses Grundeinkommen zu gewähren, ohne Eigenverant­wortung zu fordern. Es ist doch völlig richtig: Hartz IV zeichnet sich aus durch Fordern und Fördern. Genau dies steht in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
 
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
 
Frau Kollegin Kramme, Sie sind heute erst nach etli­chen Minuten zu Ihrem Lieblingsthema Mindestlohn ge­langt. Dazu hat der Kollege Kolb schon Richtungswei­sendes gesagt; ich möchte es nicht noch einmal wiederholen. Auch bei einem Mindestlohn – egal ob 7,50 Euro, 8,50 Euro oder, das ist die aktuelle Höhe, die die Linkspartei fordert, 10 Euro – wird eine teilzeitbe­schäftigte Frau von ihrem Erwerbseinkommen nicht le­ben können; das gilt auch für eine Familie mit mehreren Kindern. Man muss eins und eins zusammenzählen; die Grundrechenarten sind mit den Sozialleistungen durch­aus vereinbar.
 
Kollege Kurth, ich kenne Sie als seriösen, ernsthaften Sozialpolitiker der Grünen. Umso enttäuschter war ich, dass Sie sich nach dem Motto verhalten haben: Haltet den Dieb! Hier ist Hartz IV; wir können nichts dafür! –
 
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ­NEN]: Hat er doch gar nicht!)
 
Sie sind doch gemeinsam mit der SPD die Väter des Hartz-IV-Gesetzes.
 
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wurde doch deutlich gesagt!)
 
Wir haben als Pate mitgewirkt. Es bedarf aber keines Va­terschaftstestes, um zu wissen, wer die Autoren des Hartz-IV-Gesetzes sind.
 
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ­NEN]: Peinlich! Fragen Sie mal Seehofer!)
 
Darum wäre es gut, wenn man nicht nur sagen würde: Dass für Kinder 60 Prozent des Hartz-IV-Satzes eines Alleinstehenden bzw. Singles vorgesehen sind, ist ein Skandal. – Lassen Sie uns konstruktiv daran arbeiten, dass wir richtige und gerechte Kinderbedarfssätze errei­chen!
 
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Lehrieder, erlauben Sie eine Zwischen­frage der Kollegin Kipping?
 
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Natürlich, liebe Kollegin, liebe Frau Ausschussvorsit­zende.
 
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte, Frau Kipping.
 
Katja Kipping (DIE LINKE):
Lieber Herr Lehrieder, Sie haben meinem Kollegen Klaus Ernst vorgeworfen, dass er sich für das bedin­gungslose Grundeinkommen ausgesprochen hat. Ich als bekennende und glühende Verfechterin der wunder­baren Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens möchte Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis genommen ha­ben, dass in unserer Partei sehr heftig über diese Idee ge­stritten wurde,
 
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ja, nicht nur darüber!)
 
dass bisher ein Konsens über eine sanktionsfreie Min­destsicherung erzielt worden ist, dass sich der Kollege Ernst zu meinem großen Bedauern – das muss ich hinzu­fügen – aber strikt gegen die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens ausgesprochen hat.
 
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Wollt ihr ihn zum Vorsitzenden machen? – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ich würde ihn nicht zum Vorsitzenden machen! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihr macht wieder Wahlkampf in den Reden!)
 
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Liebe Kollegin Kipping, das ehrt den Kollegen Ernst sogar einmal.
 
In Ihrem Antrag auf Drucksache 17/659 – –
 
(Abg. Katja Kipping [DIE LINKE] nimmt Platz)
 
– Bleiben Sie stehen.
 
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Ach, Sie ant­worten noch?)
 
– Ich bin noch bei der Antwort. So kurz ist meine Antwort selten, Frau Kollegin Kipping. – In Ihrem An­trag auf Drucksache 17/659 – im Übrigen datiert auf den 10. Februar 2010; ich habe gedacht, Sie haben ihn schon vor dem Urteil geschrieben – schreiben Sie:
Die Regelleistung für Erwachsene im Mindestsi­cherungsbezug ist auf 500 Euro pro Monat festzule­gen. Die Regelleistung ist jährlich zumindest in dem Maße anzuheben, wie die Lebenshaltungskos­ten steigen.
 
Das habe ich gegenüber dem bedingungslosen Grund­einkommen eben ein Stück weit nicht sauber genug ge­trennt; das gebe ich zu. Es spricht für den Kollegen Ernst, wenn er gegen das bedingungslose Grundeinkom­men ist.
 
Wir diskutieren auch darüber – ich denke an den frü­heren thüringischen Ministerpräsidenten, Herrn Althaus –, ob das der richtige Weg ist, ob wir das ma­chen können oder ob das die Entwicklung von Motiva­tion und Antrieb von erwerbsfähigen Personen verhin­dert. Darüber müssen wir nachdenken. Wir sind für eine Diskussion hier und im Ausschuss durchaus aufge­schlossen.
 
Wir werden Hartz IV fortentwickeln. Hartz IV ist ein lernendes System. – Ich bin mit meiner Antwort auf Ihre Frage fertig. Wenn Sie wollen, dürfen Sie sich setzen. – Das Bundesverfassungsgericht hat im selben Urteil aus­geführt:
Schließlich treffe den Gesetzgeber entsprechend dem Gedanken eines „lernenden Systems“ eine Be­obachtungs- und Nachbesserungspflicht.
 
Genau dieser Pflicht lassen Sie uns bitte schön gemein­sam nachkommen.
 
Wir haben in dieser Woche bereits damit begonnen. Wir werden versuchen, das Sozialversicherungsstabili­sierungsgesetz möglichst zeitnah auf den Weg zu brin­gen. Außergewöhnliche Sonderbedarfe werden ab so­fort berücksichtigt. Sehr viele von der Grundsicherung betroffene Mitbürgerinnen und Mitbürger stellen schon zuhauf Anträge, weil sie der Auffassung sind, dass sie einen Anspruch darauf haben. Wir müssen regeln, was unter Sonderbedarfe zu verstehen ist und was nicht; eine Positivliste ist in Vorbereitung. Dies soll im Gesetzge­bungsverfahren für das Sozialversicherungsstabilisie­rungsgesetz in den nächsten Wochen auf den Weg gebracht werden, um die Forderung des Bundesverfas­sungsgerichts möglichst zeitnah umzusetzen.
 
Für die anderen Themen, insbesondere für die Be­rechnung der Kinderbedarfssätze, biete ich ausdrücklich konstruktive Gespräche sowohl im Ausschuss als auch in den Arbeitsgruppen an. Lieber Herr Kurth, das Thema ist einfach zu ernst, als dass wir uns darüber klamaukar­tig auf die Köpfe hauen sollten. Wir sollten stattdessen konstruktiv arbeiten, schauen, wie es weitergeht und was wir an Hartz IV verbessern können. Wir sollten nicht nur so handeln wie die Linkspartei, die schreibt: Hartz IV ist nichts, es ist abzuschaffen.
 
Meine Damen und Herren, Hartz IV ist fortzuentwi­ckeln; denn es ist durchaus geeignet – das wurde in den letzten Jahren bewiesen –, Mitbürgerinnen und Mitbür­ger, die früher nicht vermittelt werden konnten, wieder in Arbeit zu vermitteln.
 
Wir wissen nicht, wie lang die Krise noch dauert.
 
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Lehrieder, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Schaaf?
 
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Ja, bitte.
 
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte.
 
Anton Schaaf (SPD):
Herr Kollege Lehrieder, Sie haben jetzt zum zweiten Mal in Ihrer Rede gesagt, dass wir die Schärfe aus der Debatte nehmen sollten. Ich gebe Ihnen ausdrücklich recht, dass man das tun sollte. Man sollte das aber von Anfang an machen. Der Bundesaußenminister und nicht die Opposition in diesem Hause hat die Schärfe in die Debatte hineingebracht. Das wollte ich einmal in aller Deutlichkeit sagen.
 
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
 
Ich habe aber eine Frage. Ich kenne und schätze Sie als engagierten Sozialpolitiker.
 
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
 
Sie sind stellvertretender Vorsitzender Ihrer örtlichen CSA, der Arbeitnehmerbewegung innerhalb der Union. Das ist auch gut so.
 
Heute Morgen habe ich eine Tickermeldung über die KAB, die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung, auf den Tisch bekommen, die sich mit der Debatte um Hartz IV beschäftigt. Ich will Sie um Ihre Meinung dazu fragen. In der Tickermeldung wird die KAB zitiert, noch immer sei die FDP eine Lobbyistenpartei für Besserverdie­nende. Herr Westerwelle habe „Stammtischgeplappere“ betrieben. Wörtlich heißt es weiter:
Die KAB sprach von zum Teil unerträglichen Ver­unglimpfungen in der Diskussion um Bezieher von Hartz IV. Sie appellierte an die Politik, diese De­batte zu beenden …
 
Stimmen Sie der KAB zu?
 
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
 
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Lieber Kollege Schaaf, genau wie bei der SPD ist auch bei der Union die Meinungsfreiheit ein hohes Gut, das daher völlig zu Recht im Grundgesetz verankert ist. Ich kenne meine KAB in Würzburg sehr gut und bin re­gelmäßig mit ihr im Gespräch.
 
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ja oder nein?)
 
Ich werde der KAB weder eine Meinung vorschreiben noch eine Meinung der KAB hier öffentlich kritisieren.
 
(Anette Kramme [SPD]: Das ist ja auch nicht gefordert! Ja oder nein?)
 
Ich sage meinen Leuten, dass ich es anders sehe; das ist okay.
 
Lassen Sie uns die Diskussion kollegial führen, wie wir es auch sonst tun. Wenn Verbände den Vizekanzler öffentlich kritisieren, dann ist das ihr gutes Recht.
 
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das finde ich auch!)
 
Auch das gehört zur Demokratie. Das hält die Demokra­tie aus. Das hält auch Guido Westerwelle aus. Da brau­chen Sie keine Angst zu haben. Ich brauche ihn nicht in Schutz zu nehmen. Ich werde eine scharfe Rede des Bundesaußenministers nicht mit der Heftigkeit abwür­gen, wie Sie es versuchen. Lassen Sie ihn das sagen, was er für richtig hält.
 
Lassen Sie uns auf der Ebene, auf der wir miteinander reden, lieber Kollege Schaaf, die Schärfe herausnehmen.
 
(Zurufe von der SPD: Ja oder nein?)
 
Dann haben wir für die Betroffenen etwas Gutes getan. In diese Richtung soll es weitergehen.
 
Das Wesentliche dazu ist gesagt. Es folgen noch ei­nige Redner aus unserer Fraktion, die zu dem Thema er­gänzend sprechen werden. Lassen Sie uns die nächsten Wochen und Monate nutzen, liebe Kollegen von der Op­position, etwas Gescheites daraus zu machen, um das et­was aus dem Ruder gelaufene „Kind“ SGB II bzw. Hartz IV wieder auf die richtige Bahn zu bringen und für die Betroffenen richtungsweisende, korrekte und gute Entscheidungen für die nächsten Jahre zu treffen.
 
Herzlichen Dank.
 
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord­neten der FDP)
 
 
 
 
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