18.09.2020
Dr. Volker Ullrich: Europäische Mittel sind mit der Einhaltung europäischer Rechtsstandards verbunden
©

Redebeitrag zum Schutz von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Neben dem innigen Wunsch nach Frieden und Freiheit und ökonomischer Integration waren Demokratie und Rechtsstaatlichkeit die Gründungsmotive der europäischen Einigungsbewegung. Der erste gemeinsame Rechtstext war übrigens die Menschenrechtskonvention des Europarats von 1949 mit den Zielen von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Erst später hat sich die wirtschaftliche Einigung neben die Rechtsstaatlichkeit gesellt. Dieser Ruf von Freiheit war auch so attraktiv, dass nach 1990 die Staaten Mittel- und Osteuropas zuerst der Menschenrechtskonvention des Europarats und dann der Europäischen Union beitreten wollten. Aber hier hat sich leider einiges verschoben.

Die Herausforderung besteht im Augenblick darin, dass vor allen Dingen nationale, autoritäre Gedanken in manchen Staaten Mittel- und Osteuropas stärker sind als die Bindung an Grundwerte und Grundrechte. Der bulgarische Historiker Ivan Krastev hat das so beschrieben: Zunächst einmal wurde der Westen imitiert, und jetzt wendet man sich gegen den Westen, weil man sich wegen der eigenen Nachahmung ein Stück weit schämt. – Aber es kann niemals beschämend sein, wenn Grundrechte eingehalten werden, wenn die grundlegenden Regeln des Zusammenlebens und der politischen Auseinandersetzung in jedem Staat Europas gelten.

Das ist übrigens auch keine Frage der nationalen Souveränität. Wer einen Vertrag unterschrieben hat und einer Rechtsgemeinschaft beigetreten ist,

(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Muss sie auch einhalten!)

muss dafür Sorge tragen, dass die Regeln, die für diese Rechtsgemeinschaft gelten, vollumfänglich eingehalten werden. Es darf keinen Rabatt bei der Rechtsstaatlichkeit in diesem Rechtsstaatsorganismus Europa geben, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Beatrix von Storch [AfD]: Die CDU ist begeistert!)

Die Vorkommnisse, über die wir reden müssen, liegen auf der Hand. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sterben nicht mit einem lauten Knall. Es kommt auch niemand, der sagt: Ich schaffe die Rechtsstaatlichkeit ab. Vielmehr passiert das schleichend, durch Nadelstiche: Ein Radiosender bekommt keine Lizenz mehr und kann damit seiner presserechtlichen Aufgabe nicht mehr nachkommen; eine antisemitische Kampagne gegen Soros; Angriffe gegen die Wissenschaftsfreiheit, indem eine Universität in Budapest nicht mehr ihrem Lehrauftrag nachkommen kann, oder auch in Polen, wo sich manche Woiwodschaften als homosexuellfreie Zonen bezeichnen.

Das kann unter keinen Umständen mit den Grundrechten Europas in Verbindung gebracht werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und jetzt etwas zu Ungarn!)

Wer glaubt, dass man Mittel aus der Europäischen Union bekommt, nur weil man dieser Rechtsgemeinschaft beigetreten ist, aber auf der anderen Seite gegen die Rechtsgemeinschaft verstößt, indem man grundlegende Werte missachtet, aber trotzdem meint, man müsse Mittel bekommen, der hat nicht verstanden, um was es in Europa geht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Konstantin Kuhle [FDP])

Europäische Mittel sind mit der Einhaltung europäischer Rechtsstandards verbunden; sie stehen nicht zur Disposition, sondern gehören zur DNA der Europäischen Union. Deswegen brauchen wir ein weiteres, ein zusätzliches Verfahren; denn in der Praxis hat sich gezeigt, dass das Artikel-7-Verfahren schwerfällig ist, weil es eine Alles-oder-nichts-Entscheidung ist, weil es der Einstimmigkeit im Rat bedarf und damit ein Land, das vielleicht auch gegen diese Grundsätze verstößt, das andere schützen kann und durch dieses Verhalten letztlich ein Keil durch die Europäische Union getrieben wird. Was wir brauchen, sind nicht Regeln, die spalten, sondern Regeln, die einen. Ich glaube, dass die Einhaltung von Grundwerten, dass Rechtsstaatlichkeit und Demokratie das ist, wohinter wir uns in Europa alle versammeln können.

In den nächsten Jahrzehnten wird die große Herausforderung, die große Frage in der Welt sein: Was setzt sich durch? Der nationale Autoritarismus oder Freiheit und Demokratie? Deswegen muss Europa als gutes, leuchtendes Beispiel vorangehen und Demokratie und Rechtsstaatlichkeit leben, der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarates als EU beitreten und – das sei abschließend gesagt – durch einen Rechtsstaatsmechanismus dafür Sorge tragen, dass wir diese Werte vorleben.

Das ist Teil dieses Antrags. Ich danke allen, die daran mitgearbeitet haben, und bitte um Zustimmung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)