Interview im Deutschlandfunk zum Wahlrecht

Beim Wahlrecht geht es um das sensibelste Thema parlamentarischen Schaffens. Deswegen ist die Union dagegen, eine Anpassung des hoch komplizierten Wahlgesetzes übers Knie brechen, so Hans-Peter Uhl im Deutschlandfunk. Die am Wochenende propagierte Meinungsänderung der SPD nennt Uhl unseriös. Die Haltung der Union sei keine machttaktische Blockade. Wenn man sich mit Urteil und Gesetz befasse, sehe man, dass das sehr sorgfältig vorbereitet werden muss.

Frage: Was ist ein Überhangmandat? Selbst politisch interessierte Zeitgenossen haben so ihre Schwierigkeiten mit einer einwandfreien Definition. Dabei ist dies nicht nur eine akademische Frage, sondern Überhangmandate haben handfeste politische Konsequenzen. Vor allem die großen Parteien profitieren regelmäßig bei Bundestagswahlen von den Überhangmandaten, ein Grund, weshalb das Bundesverfassungsgericht vor rund einem Jahr eine grundlegende Reform des Wahlrechtes bis spätestens 2011 für notwendig erklärte. Doch allzu eilig hatte es die Bundesregierung bei dieser Frage bisher nicht. Nun, kurz vor Toresschluss dieser Legislaturperiode, wollen die Grünen ernst machen. Doch die Union stellt sich quer und die SPD steckt in der Koalitionszwickmühle. -  Sind Sie erleichtert über die Koalitionstreue der SPD?
 
Uhl: Nein. Das ist nicht das Thema, dass wir erleichtert sind, sondern, wie gerade in der Anmoderation auch gesagt wurde, wir haben ein hoch kompliziertes Wahlgesetz entsprechend anzupassen und das kann man nicht übers Knie brechen. Da weiß man, dass alles, was man tut, gleich wieder Auswirkungen hat an anderer Stelle. Deswegen war die SPD gut beraten, hier nicht direkt nach dem Urteilsspruch zu sagen, wir machen das erst in der nächsten Periode, und dann ein halbes Jahr später ihre Meinung zu ändern und zu sagen, jetzt machen wir es 5 vor 12 dann doch noch schnell. Das ist nicht seriös.
 
Frage: Hätte denn, Herr Uhl, die Kanzlerin beim anderen Verhalten der SPD - und das war ja durchaus möglich nach den Äußerungen des Generalsekretärs - den SPD-Ministern den Stuhl vor die Tür gesetzt?
 
Uhl: Das ist eine Frage der Koalitionstreue. Wir haben uns verabredet, in den vier Jahren nur gemeinsam Gesetze zu machen und nicht im Alleingang. Logischerweise wäre das die Konsequenz gewesen, ganz abgesehen vom Inhalt des dann entstandenen, möglicherweise wiederum verfassungswidrigen Gesetzes.
 
Frage: Ihr SPD-Kollege, der innenpolitische Sprecher Dieter Wiefelspütz, hat gesagt, viele in seiner Fraktion wären jetzt stinksauer auf die machttaktische Blockade der Union. Haben Sie denn zumindest ein bisschen Verständnis für diese Gefühle ihres Koalitionspartners?
 
Uhl: Nein. Es ist keine machttaktische Blockade, sondern wenn Sie sich mit dem Urteil befassen und mit dem Gesetz, dann sehen Sie, dass man das sehr sorgfältig vorbereiten muss. Es wird ja immer wieder behauptet, die Überhangmandate wären vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden; das ist ja nicht der Fall. Überhangmandate sind nicht angegriffen worden, sondern die Art der Verrechnung von Überhangmandaten in einem Land mit dem anderen Land, dieses sogenannte negative Stimmengewicht, ein hoch komplizierter mathematischer Vorgang, den man kaum erklären kann, und der ist in der Tat verbesserungswürdig.
Aber dann muss man schon mehrere Dinge noch weiter regeln wie zum Beispiel das Thema mit den Berliner Zweitstimmen. Da gibt es die Frage, was ist denn, wenn wie bei der vorletzten Wahl bereits geschehen zwei Abgeordnete aus Berlin direkt gewählt werden und in den Bundestag einrücken, ihre Partei aber nicht die 5-Prozent-Hürde nimmt, wenn Wähler mit ihrer Zweitstimme andere Parteien gewählt haben, also ein doppeltes Gewicht eingebracht haben mit ihrer Wahlstimme? Das ist auch nicht verfassungsgemäß.
 
Frage: Herr Uhl, eine komplizierte Materie, Sie sagen es. Sie stimmen aber auch zu, dass das Wahlrecht verbesserungswürdig ist. Manche Verfassungsrechtler sagen nun, die Korrektur der Fehler sei bei gutem Willen in einer Woche zu regeln.
 
Uhl: Nein, das ist absolut unkorrekt. Natürlich kann man in einer Woche alles Mögliche regeln. Man könnte zum Beispiel auch auf den Gedanken kommen, wir brauchen ein ganz anderes Wahlsystem, wir wollen nur die im Bundestag sitzen haben, die ihren Wahlkreis direkt gewonnen haben, und die über die Liste, die brauchen wir nicht mehr oder die reduzieren wir. Das sind alles rechtspolitische Ideen, die man durchaus gut begründen kann.
Aber dazu braucht man eine Mehrheit, und dann komme ich zu einem ganz wichtigen Punkt: Wie organisieren wir rechtsmäßig, verfassungsmäßig das Berechnen von Sitzen aufgrund der Stimmen, die abgegeben wurden? In unserem Grundgesetz heißt es, Wahlen müssen allgemein unmittelbar frei, aber vor allem gleich erfolgen. Jede Stimme muss den gleichen Erfolgswert haben, und das ist das komplizierte Thema.
 
Frage: Aber eine Mehrheit hätte es doch gegeben, Herr Uhl. SPD, Grüne und Linkspartei waren sich ja einig, dass der Antrag der Grünen, der an diesem Freitag gestellt werden sollte, eine Mehrheit findet. Nur die Union macht nicht mit.
 
Uhl: Das ist ja gerade das Thema bei der Frage, wie organisieren wir die Verteilung der Sitze. Da brauchen sie eine höchst mögliche Übereinstimmung zwischen den Parteien, denn das ist ja gerade das Giftige an dem Thema, dass alle Parteien davon überzeugt sein müssen, und wenn nur eine Partei davon nicht überzeugt ist, ist das kein gutes Gesetz. Es ist ja kein Gesetz, das man durchpeitschen kann mit einer knappen Mehrheit, sondern es geht ja um das Verteilen der Sitze, das Verteilen der Macht im Parlament. Es geht doch um das sensibelste Thema parlamentarischen Schaffens. Der Wähler wählt, es kommen so und so viele Millionen Stimmen zusammen und was mache ich aus den Millionen Stimmen? Wie verteile ich die Sitze auf die Parteien? Es gibt nichts sensibleres als dieses Thema im Parlamentarismus.
 
Frage: Herr Uhl, nun könnte man vermuten, Sie sind deshalb nicht überzeugt vom Antrag der Grünen, weil laut aktuellen Vorhersagen vor allem Ihre Fraktion von den Überhangmandaten im Herbst profitieren wird?
 
Uhl: Wie viele Überhangmandate es in drei Monaten im nächsten Bundestag geben wird, weiß weder ein Professor noch ein Wahlforscher.
 
Frage: 20 Stück sollen es sein laut Vorhersagen.
 
Uhl: Ich bin beeindruckt über die Kühnheit der Prognose. Ich kann nur sagen, ich habe die ganze Liste der Überhangmandate der letzten drei Bundestagswahlen. Bei der letzten hatte die Union sieben, die SPD neun; bei der vorletzten hatte die Union nur eins, die SPD dafür vier; davor hatte die SPD 13, wir überhaupt kein Überhangmandat. Und jetzt plötzlich soll es ganz anders kommen? Ich habe da erhebliche Zweifel an der Prognose. Es kann so sein, ich will das nicht in Abrede stellen, aber es ist eher unwahrscheinlich.
 
Frage: Aber Sie hätten es, Herr Uhl, wahrscheinlich schon eiliger gehabt, wenn die Vorhersagen sagen würden, die Grünen oder die Linkspartei würden von den Überhangmandaten vor allem profitieren?
 
Uhl: Wir müssen ein Gesetz machen, das unangreifbar ist, das heißt, dass keine Partei Rechtsgründe hat zu sagen, dieses ist keine gleiche Methode des Auszählens, weil sie dann verfassungswidrig wäre. Da muss man ganz sauber argumentieren und darf nicht nach parteipolitischen Vorteilen schielen, sondern wer da nicht sauber im Parlamentarismus arbeitet, der wird aufgehoben vom Gericht.
 
Frage: Aber können Sie verstehen, wenn manche Wähler nun genau dies sagen, Parteitaktik steht über dem Grundgesetz, weil man sich eben Vorteile von diesen Überhangmandaten erhofft?
 
Uhl: Gegen diese Behauptung ist kein Kraut gewachsen, weil es eine blanke Behauptung ist und nicht bewiesen werden kann. Damit muss man leben in der Politik, aber es ist nicht so.
 
Die Fragen stellte Stefan Heinlein
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