
Rede zur Grundsicherung
4.a) Beratung Antrag BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bedarfsgerechte Regelsätze für Kinder und Erwachsene jetzt ermöglichen
- Drs 17/675 -
- Drs 17/675 -
4.b) Beratung Antrag DIE LINKE.
Weg mit Hartz IV - Für gute Arbeit und eine sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindestsicherung
- Drs 17/659 -
- Drs 17/659 -
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen
Ich bin gerade von meinen Fraktionskollegen gebeten worden, nicht so laut zu schreien wie mein Vorredner. Das werde ich auch nicht tun.
Ich bin betrübt über den Gang dieser Diskussion. Die Probleme der Betroffenen rechtfertigen, dass wir gemeinsam versuchen, uns zusammenzuraufen und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts konstruktiv zu bewerten.
Was höre ich von der Opposition? Nur Polemik. Lieber Kollege Ernst, Sie haben das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht gelesen, oder Sie haben es gelesen, es aber nicht verstanden. Sie proklamieren hier ein bedingungsloses Grundeinkommen bzw. einen Mindestsatz von 500 Euro. „500 Euro“ steht nirgendwo im Gesetz. Sie würden mit dem, was Sie in Ihrem Antrag fordern, genau denselben Fehler machen, den das Bundesverfassungsgericht moniert hat: dass die Sätze pauschal, ohne detaillierte Berechnung festgelegt wurden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Lieber Kollege Ernst, es ist nicht schlimm, wenn man Fehler macht; aber wenn man Fehler, die man als solche erkannt hat, wiederholt, dann ist das bedenklich. Herr Ernst, Sie kommen aus Schweinfurt; das ist nicht weit weg von Würzburg. Wir können uns gerne einmal unterhalten; vielleicht kann ich Ihr Wissen in dieser Richtung dann etwas mehren.
Meine Damen und Herren, auch Ihre Behauptung, dass Hartz IV von der falschen Voraussetzung ausgehe, dass die Menschen grundsätzlich nicht arbeiten wollten, stimmt nicht. In dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde dargestellt – ich darf mit geneigter Erlaubnis des Präsidenten zitieren –:
Das Leistungskonzept des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch sei in Übereinstimmung mit Art. 1 Abs. 1 GG auf Eigenverantwortung durch Einsatz der Erwerbsfähigkeit orientiert mit dem Ziel, dem Hilfebedürftigen schnell zur Sicherung seiner eigenen Existenz zu verhelfen. Ein Pauschbetrag fördere die Eigenverantwortung bei der Verwendung der Sozialleistung.
Das heißt, in seinem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht etwas von Hilfe zur Selbsthilfe geschrieben, nicht aber davon, zu alimentieren und ein bedingungsloses Grundeinkommen zu gewähren, ohne Eigenverantwortung zu fordern. Es ist doch völlig richtig: Hartz IV zeichnet sich aus durch Fordern und Fördern. Genau dies steht in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Frau Kollegin Kramme, Sie sind heute erst nach etlichen Minuten zu Ihrem Lieblingsthema Mindestlohn gelangt. Dazu hat der Kollege Kolb schon Richtungsweisendes gesagt; ich möchte es nicht noch einmal wiederholen. Auch bei einem Mindestlohn – egal ob 7,50 Euro, 8,50 Euro oder, das ist die aktuelle Höhe, die die Linkspartei fordert, 10 Euro – wird eine teilzeitbeschäftigte Frau von ihrem Erwerbseinkommen nicht leben können; das gilt auch für eine Familie mit mehreren Kindern. Man muss eins und eins zusammenzählen; die Grundrechenarten sind mit den Sozialleistungen durchaus vereinbar.
Kollege Kurth, ich kenne Sie als seriösen, ernsthaften Sozialpolitiker der Grünen. Umso enttäuschter war ich, dass Sie sich nach dem Motto verhalten haben: Haltet den Dieb! Hier ist Hartz IV; wir können nichts dafür! –
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat er doch gar nicht!)
Sie sind doch gemeinsam mit der SPD die Väter des Hartz-IV-Gesetzes.
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wurde doch deutlich gesagt!)
Wir haben als Pate mitgewirkt. Es bedarf aber keines Vaterschaftstestes, um zu wissen, wer die Autoren des Hartz-IV-Gesetzes sind.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich! Fragen Sie mal Seehofer!)
Darum wäre es gut, wenn man nicht nur sagen würde: Dass für Kinder 60 Prozent des Hartz-IV-Satzes eines Alleinstehenden bzw. Singles vorgesehen sind, ist ein Skandal. – Lassen Sie uns konstruktiv daran arbeiten, dass wir richtige und gerechte Kinderbedarfssätze erreichen!
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Lehrieder, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kipping?
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Natürlich, liebe Kollegin, liebe Frau Ausschussvorsitzende.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte, Frau Kipping.
Katja Kipping (DIE LINKE):
Lieber Herr Lehrieder, Sie haben meinem Kollegen Klaus Ernst vorgeworfen, dass er sich für das bedingungslose Grundeinkommen ausgesprochen hat. Ich als bekennende und glühende Verfechterin der wunderbaren Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens möchte Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis genommen haben, dass in unserer Partei sehr heftig über diese Idee gestritten wurde,
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ja, nicht nur darüber!)
dass bisher ein Konsens über eine sanktionsfreie Mindestsicherung erzielt worden ist, dass sich der Kollege Ernst zu meinem großen Bedauern – das muss ich hinzufügen – aber strikt gegen die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens ausgesprochen hat.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Wollt ihr ihn zum Vorsitzenden machen? – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ich würde ihn nicht zum Vorsitzenden machen! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihr macht wieder Wahlkampf in den Reden!)
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Liebe Kollegin Kipping, das ehrt den Kollegen Ernst sogar einmal.
In Ihrem Antrag auf Drucksache 17/659 – –
(Abg. Katja Kipping [DIE LINKE] nimmt Platz)
– Bleiben Sie stehen.
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Ach, Sie antworten noch?)
– Ich bin noch bei der Antwort. So kurz ist meine Antwort selten, Frau Kollegin Kipping. – In Ihrem Antrag auf Drucksache 17/659 – im Übrigen datiert auf den 10. Februar 2010; ich habe gedacht, Sie haben ihn schon vor dem Urteil geschrieben – schreiben Sie:
Die Regelleistung für Erwachsene im Mindestsicherungsbezug ist auf 500 Euro pro Monat festzulegen. Die Regelleistung ist jährlich zumindest in dem Maße anzuheben, wie die Lebenshaltungskosten steigen.
Das habe ich gegenüber dem bedingungslosen Grundeinkommen eben ein Stück weit nicht sauber genug getrennt; das gebe ich zu. Es spricht für den Kollegen Ernst, wenn er gegen das bedingungslose Grundeinkommen ist.
Wir diskutieren auch darüber – ich denke an den früheren thüringischen Ministerpräsidenten, Herrn Althaus –, ob das der richtige Weg ist, ob wir das machen können oder ob das die Entwicklung von Motivation und Antrieb von erwerbsfähigen Personen verhindert. Darüber müssen wir nachdenken. Wir sind für eine Diskussion hier und im Ausschuss durchaus aufgeschlossen.
Wir werden Hartz IV fortentwickeln. Hartz IV ist ein lernendes System. – Ich bin mit meiner Antwort auf Ihre Frage fertig. Wenn Sie wollen, dürfen Sie sich setzen. – Das Bundesverfassungsgericht hat im selben Urteil ausgeführt:
Schließlich treffe den Gesetzgeber entsprechend dem Gedanken eines „lernenden Systems“ eine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht.
Genau dieser Pflicht lassen Sie uns bitte schön gemeinsam nachkommen.
Wir haben in dieser Woche bereits damit begonnen. Wir werden versuchen, das Sozialversicherungsstabilisierungsgesetz möglichst zeitnah auf den Weg zu bringen. Außergewöhnliche Sonderbedarfe werden ab sofort berücksichtigt. Sehr viele von der Grundsicherung betroffene Mitbürgerinnen und Mitbürger stellen schon zuhauf Anträge, weil sie der Auffassung sind, dass sie einen Anspruch darauf haben. Wir müssen regeln, was unter Sonderbedarfe zu verstehen ist und was nicht; eine Positivliste ist in Vorbereitung. Dies soll im Gesetzgebungsverfahren für das Sozialversicherungsstabilisierungsgesetz in den nächsten Wochen auf den Weg gebracht werden, um die Forderung des Bundesverfassungsgerichts möglichst zeitnah umzusetzen.
Für die anderen Themen, insbesondere für die Berechnung der Kinderbedarfssätze, biete ich ausdrücklich konstruktive Gespräche sowohl im Ausschuss als auch in den Arbeitsgruppen an. Lieber Herr Kurth, das Thema ist einfach zu ernst, als dass wir uns darüber klamaukartig auf die Köpfe hauen sollten. Wir sollten stattdessen konstruktiv arbeiten, schauen, wie es weitergeht und was wir an Hartz IV verbessern können. Wir sollten nicht nur so handeln wie die Linkspartei, die schreibt: Hartz IV ist nichts, es ist abzuschaffen.
Meine Damen und Herren, Hartz IV ist fortzuentwickeln; denn es ist durchaus geeignet – das wurde in den letzten Jahren bewiesen –, Mitbürgerinnen und Mitbürger, die früher nicht vermittelt werden konnten, wieder in Arbeit zu vermitteln.
Wir wissen nicht, wie lang die Krise noch dauert.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Lehrieder, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Schaaf?
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Ja, bitte.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte.
Anton Schaaf (SPD):
Herr Kollege Lehrieder, Sie haben jetzt zum zweiten Mal in Ihrer Rede gesagt, dass wir die Schärfe aus der Debatte nehmen sollten. Ich gebe Ihnen ausdrücklich recht, dass man das tun sollte. Man sollte das aber von Anfang an machen. Der Bundesaußenminister und nicht die Opposition in diesem Hause hat die Schärfe in die Debatte hineingebracht. Das wollte ich einmal in aller Deutlichkeit sagen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Ich habe aber eine Frage. Ich kenne und schätze Sie als engagierten Sozialpolitiker.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Sie sind stellvertretender Vorsitzender Ihrer örtlichen CSA, der Arbeitnehmerbewegung innerhalb der Union. Das ist auch gut so.
Heute Morgen habe ich eine Tickermeldung über die KAB, die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung, auf den Tisch bekommen, die sich mit der Debatte um Hartz IV beschäftigt. Ich will Sie um Ihre Meinung dazu fragen. In der Tickermeldung wird die KAB zitiert, noch immer sei die FDP eine Lobbyistenpartei für Besserverdienende. Herr Westerwelle habe „Stammtischgeplappere“ betrieben. Wörtlich heißt es weiter:
Die KAB sprach von zum Teil unerträglichen Verunglimpfungen in der Diskussion um Bezieher von Hartz IV. Sie appellierte an die Politik, diese Debatte zu beenden …
Stimmen Sie der KAB zu?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Lieber Kollege Schaaf, genau wie bei der SPD ist auch bei der Union die Meinungsfreiheit ein hohes Gut, das daher völlig zu Recht im Grundgesetz verankert ist. Ich kenne meine KAB in Würzburg sehr gut und bin regelmäßig mit ihr im Gespräch.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ja oder nein?)
Ich werde der KAB weder eine Meinung vorschreiben noch eine Meinung der KAB hier öffentlich kritisieren.
(Anette Kramme [SPD]: Das ist ja auch nicht gefordert! Ja oder nein?)
Ich sage meinen Leuten, dass ich es anders sehe; das ist okay.
Lassen Sie uns die Diskussion kollegial führen, wie wir es auch sonst tun. Wenn Verbände den Vizekanzler öffentlich kritisieren, dann ist das ihr gutes Recht.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das finde ich auch!)
Auch das gehört zur Demokratie. Das hält die Demokratie aus. Das hält auch Guido Westerwelle aus. Da brauchen Sie keine Angst zu haben. Ich brauche ihn nicht in Schutz zu nehmen. Ich werde eine scharfe Rede des Bundesaußenministers nicht mit der Heftigkeit abwürgen, wie Sie es versuchen. Lassen Sie ihn das sagen, was er für richtig hält.
Lassen Sie uns auf der Ebene, auf der wir miteinander reden, lieber Kollege Schaaf, die Schärfe herausnehmen.
(Zurufe von der SPD: Ja oder nein?)
Dann haben wir für die Betroffenen etwas Gutes getan. In diese Richtung soll es weitergehen.
Das Wesentliche dazu ist gesagt. Es folgen noch einige Redner aus unserer Fraktion, die zu dem Thema ergänzend sprechen werden. Lassen Sie uns die nächsten Wochen und Monate nutzen, liebe Kollegen von der Opposition, etwas Gescheites daraus zu machen, um das etwas aus dem Ruder gelaufene „Kind“ SGB II bzw. Hartz IV wieder auf die richtige Bahn zu bringen und für die Betroffenen richtungsweisende, korrekte und gute Entscheidungen für die nächsten Jahre zu treffen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)