Rede in der Aktuelle Stunde zur Aktuellen Entwicklung beim EU-Türkei-Abkommen

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle haben in den vergangenen Monaten erlebt und gesehen, dass das bisherige europäische Asylsystem unter diesen Flüchtlingsströmen schlicht nicht funktioniert hat. Das Dublin-System, EU-Standards, der Grenzschutz, die Verteilung von Flüchtlingen – all das wurde nicht ideal umgesetzt und ist auch an der einen oder anderen Stelle nicht praktikabel.

In Deutschland, aber auch in anderen Ländern werden die Rufe nach nationalen Maßnahmen lauter, obwohl sie in einem vereinten Europa nur Notlösungen und keine echten Lösungen sein können. Die Reform des Asylsystems, an der aktuell gearbeitet wird, ist insofern auch für die Wirksamkeit des Abkommens mit der Türkei entscheidend. Die Kommission hat aktuell vorgeschlagen, das Dublin-System mit einem Notfallmechanismus auszustatten, um Ländern, die an ihre Grenzen stoßen – wie es zum Beispiel bei Italien der Fall war –, zu helfen, indem die Schutzbedürftigen dann auf die anderen Mitgliedstaaten verteilt werden. Endlich erfolgt die Androhung, dass Staaten, die sich nachhaltig weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, eine Geldstrafe zahlen sollen. Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen, EASO, soll massiv ausgebaut werden, damit es notfalls viel wirkungsvoller und schneller eingreifen kann. Das ist der richtige Weg in Europa; denn Europa muss sich als Wertegemeinschaft zeigen und nicht als Selbstbedienungsladen.

Zentral für das Abkommen mit der Türkei ist die Zusage der Türkei, Flüchtlinge, die irregulär nach Griechenland reisen, zurückzunehmen. Im Gegenzug nimmt die Europäische Union Flüchtlinge aus der Türkei auf und unterstützt die Flüchtlingshilfe in der Türkei mit 6 Milliarden Euro. Für Kurzaufenthalte von bis zu 90 Tagen soll die Visumpflicht für Türken aufgehoben werden.

Auch wir wissen, dass das Abkommen Stärken und Schwächen hat. Es hat ein starkes Signal gesendet. Die Flüchtlingszahlen sind zurückgegangen. Die Zahl der Überfahrten von Personen nach Griechenland ist beispielsweise in den letzten vier Wochen, also nach Abschluss des Abkommens, auf 7 800 zurückgegangen, während es noch im Oktober letzten Jahres 214 000 Menschen waren, die nach Griechenland übergesetzt sind. Das zeigt also, dass wir mit diesem Mittel auch die Schleuserkriminalität eindämmen können.

Das Abkommen enthält aber auch Risiken, vor allem bei der Visafreiheit. In meinem Wahlkreis, in Aschaffenburg, lieferten sich am Ostersonntag Hunderte nationalistische Türken und Kurden über Stunden hinweg gewalttätige Ausschreitungen. Polizisten wurden verletzt und Häuser bis in die Nacht hinein besetzt. Dieser Vorfall zeigt mir ganz deutlich, dass die freie Einreise von Kurden und Türken nach Deutschland unter den aktuellen Umständen sehr wohl riskant ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Erdogan darf seinen Konflikt mit den Kurden nicht nach Europa verschieben.

Damit das Türkei-Abkommen dauerhaft Erfolg hat, sind drei Punkte entscheidend.

Erstens. Bei der Visaliberalisierung darf es keinen Rabatt geben. Tempo darf nicht vor Gründlichkeit gehen. Wir müssen uns wirklich darauf verständigen, dass alle 72 Kriterien, die bereits im Dezember 2013 – und nicht erst aktuell – vereinbart wurden, eingehalten werden. Das gilt auch für die Passsicherheit und für die Menschenrechte.

Frau Kollegin Roth, ich schätze Sie wirklich sehr, auch wenn wir oft unterschiedlicher Ansicht sind. Aber Ihre Unterstellung, dass es irgendeinem Mitglied des Hauses oder auch der Bundesregierung egal ist, wenn an der Grenze auf Kinder geschossen wird, und dass die Bundesregierung diesen Vorwürfen bzw. Behauptungen nicht nachgehen will, hat mich – das muss ich ehrlich sagen – entsetzt,

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So habe ich es auch nicht gesagt! Zuhören!)

zumal unser Parlamentarischer Staatssekretär Ole Schröder gestern im Innenausschuss ganz deutlich gesagt hat, dass man all diesen Berichten nachgehen wird, es aber noch keine aktuelleren Erkenntnisse gibt und dass die entsprechenden Verbindungsleute bereits kontaktiert wurden. Es handelte sich um eine Meldung, die zwei Tage alt war! Nicht alles, was in der Zeitung steht, ist von Haus aus richtig.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit Dezember gibt es diese Meldungen!)

Ich gehe nur auf den Vorwurf ein, dass an der Grenze auf Kinder geschossen worden ist. An solche Unterstellungen hier im Parlament kann ich mich nicht gewöhnen. Ich finde das einfach auch nicht in Ordnung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Was geben wir denn für ein Bild nach außen ab – auf den anderen Vorwurf möchte ich gar nicht eingehen –, wenn die Menschen hören, dass wir so über Parlamentarier anderer Parteien sprechen? Ich muss sagen: Daran will und werde ich mich auch nach drei Jahren nicht gewöhnen. Ich finde das ungeheuerlich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Tragen Sie Verantwortung, oder tragen Sie keine?)

Zweitens. Wir müssen die Visafreiheit schnell aussetzen können. Ich bin sehr froh, dass die Kommission plant, dass die bisherigen Verfahren massiv vereinfacht und beschleunigt werden sollen, damit dann, wenn es – das ist unsere Befürchtung – massenhafte Überziehungen der Bleibefrist gibt oder unbegründete Asylanträge kommen oder sich eine mangelnde Rücknahmebereitschaft durch die Türkei abzeichnen sollte, die Visumpflicht automatisch wieder in Kraft treten kann.

Drittens müssen wir – da möchte ich Ihnen, Herr Castellucci, vollumfänglich zustimmen – noch mehr Mittel für die Hilfe vor Ort bereitstellen, damit wir schneller helfen können. Es darf auch nicht nur um die 3 Millionen Flüchtlinge in der Türkei gehen, die dort seit 2011 aufgenommen worden sind, sondern es muss auch um die Flüchtlinge im Libanon und in Jordanien gehen.

Zum Schluss: Europa darf sich bei den Verhandlungen nicht kleiner machen, als es ist. Wir bekommen so oft gesagt: Die Türkei erpresst uns. – Nein, die Türkei braucht Europa auch. Sie braucht Europa im Kampf gegen den Terror und als Wirtschaftspartner. Das müssen wir Ankara auch deutlich zeigen; denn dort hält man eben nicht alle Trümpfe in der Hand. Mir ist wichtig – das wäre meine Schlusssatz –: Wir dürfen uns nicht kleiner machen und müssen darauf bestehen, dass alle 72 Punkte erfüllt werden.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

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