Aktuelle Stunde - Demokratie und Erinnerungskultur in Deutschland angesichts rechtsextremistischer Angriffe

Kein Problem, Herr Präsident. Sie sind nicht der Erste in meinem Leben, dem das passiert ist. Aber damit ist mir Ihre Aufmerksamkeit sicher.

Herr Präsident! Vielen Dank für Ihre klaren Worte und auch für den Ordnungsruf. Ich glaube, es ist in einer solchen Debatte richtig und wichtig, dass hier durchgegriffen wird und der Rechtsstaat funktioniert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen:

Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen. Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.

Prägnant und eindringlich wie kein anderer fasste der Schoah-Überlebende Primo Levi somit Sinn, Zweck und Auftrag unserer Erinnerungskultur und Gedenkarbeit zusammen. Das, was die AfD immer intensiver infrage stellt, nämlich unser Geschichtsbewusstsein, ist ein unentbehrlicher Teil unserer Identität.

(Dr. Alexander Gauland [AfD]: Ach du lieber Gott!)

Demokratie geht nicht ohne Erinnerungskultur.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir sind nicht persönlich für die Verbrechen unserer Vorfahren verantwortlich. Uns trifft keine persönliche Schuld. Wir sind aber durch Sprache, Kultur und Abstammung mit diesen Taten verbunden. Aus der Erinnerung erwächst eine Verantwortung – auch für unsere, für meine Generation. Niemals dürfen Menschen in unserem Land wieder wegen ihres Aussehens, ihrer Religion, ihrer Meinung,

(Stephan Brandner [AfD]: Mit Ausnahme der AfD!)

ihrer Herkunft oder wegen ihres Drangs nach Freiheit getötet werden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Stephan Brandner [AfD]: Sie dreschen billige Phrasen!)

Die beiden Diktaturen auf deutschem Boden, die kommunistische wie die nationalsozialistische, müssen uns Mahnung sein. Leider müssen wir aber häufiger feststellen, dass der Respekt vor den Opfern dieser beiden Diktaturen immer wieder verloren geht. So hat zum Beispiel die AfD die Erinnerung an die Opfer des Holocaust mit Füßen getreten.

(Zurufe von der AfD)

Der Thüringer Fraktionsvorsitzende der AfD, Björn Höcke, bezeichnete das Denkmal für die ermordeten Juden Europas als – Zitat – „Denkmal der Schande“.

(Dr. Alexander Gauland [AfD]: „Als Mahnmal unserer Schande“! Das ist gesagt worden!)

Alle dachten, dass diese Verunglimpfung, die nicht einmal innerparteilich geahndet wurde – das werfe ich Ihnen hier vor –, die unterste Schublade ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir dachten, es wiederholt sich nicht.

(Dr. Alexander Gauland [AfD]: Höcke hat nur Rudolf Augstein zitiert!)

Aber nein: Der AfD-Abgeordnete Gedeon fordert ein Ende der Stolpersteinaktion. Mit solchen Aussagen verhöhnen Sie das Gedenken an die Toten. Schämen Sie sich!

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der AfD)

Wenn die Stolpersteine und das Holocaustmahnmal eine Schande für Sie sind, was halten Sie dann von den russischen Inschriften der Sowjetsoldaten, die sich im Reichstagsgebäude finden? Aber ich glaube, diese als Schande zu bezeichnen, hat Ihnen Herr Putin verboten.

An einer tiefen und vor allem ehrlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und mit der zeitgenössischen Erinnerungskultur sind Sie gar nicht interessiert. Sie begehen dabei den gleichen Fehler wie damals die PDS. Auch sie konnte sich nie dazu durchringen, die kommunistische Diktatur in Deutschland aufzuarbeiten.

(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Einfach mal schlaumachen!)

Nie wurden Mauertote beklagt. Nie haben Sie hörbar die blutige Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 verurteilt.

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Natürlich! Selbstverständlich! – Petra Pau [DIE LINKE]: Selbstverständlich! – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Meine Güte!)

Und nie hat es eine Entschuldigung für die in der damaligen sowjetischen Besatzungszone getöteten Deutschen gegeben.

Mein Urgroßvater wurde 1948 im Lager Mühlberg durch die Sowjetbesatzer systematisch getötet. Dazu höre ich leider nie etwas von Ihnen.

(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Wenn Sie hier so reden, wie Sie es machen, dann sollten Sie die Dinge lesen, die es dazu gibt!)

Sie können aber in dieser Debatte nicht glaubhaft gegen die AfD argumentieren, solange Sie auf dem linken Auge der Geschichte blind sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wenn linke und rechte Parteien im Bundestag wirklich ein Interesse an der Debatte zur Erinnerungspolitik haben, dann würde ich Ihnen sagen: Auschwitz, Sachsenhausen und Hohenschönhausen sind nach wie vor Teil unseres kollektiven Gedächtnisses.

(Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir Deutschen können stolz auf die Aufarbeitung unserer Geschichte sein, auf die Lehren, die wir gezogen haben, und auf das bleibende Gedenken an die Opfer.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

In den Staaten, wo der offene und ehrliche Umgang mit der eigenen Geschichte fehlt, wird er durch nationalistische Propaganda und Chauvinismus ersetzt, wie wir leider bei Putins Krieg gegen die Ukraine sehen.

Erinnerungskultur ist ein andauernder Lernprozess. Das betrifft auch und insbesondere Menschen, die zu uns zuwandern und womöglich antisemitische Vorurteile und Ressentiments mitbringen. Diesen Menschen sage ich ganz klar: Deutschland ist das falsche Zielland für Sie. – Hier wird Antisemitismus nicht geduldet.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD)

Meine Damen und Herren, bald gibt es keinen Ausch­witz-Überlebenden mehr, der mit seiner auf den Arm tätowierten Häftlingsnummer sein Leid und die Unmenschlichkeit des Dritten Reiches bezeugen kann. Bald gibt es keine Menschen mehr, die von der Verfolgung durch die Stasi, der Inhaftierung in Hohenschönhausen und der Gefahr des Todes an der innerdeutschen Grenze berichten können.

Es liegt also an uns, Primo Levis Mahnung und Auftrag mit Leben zu erfüllen und jeder Form der Geschichtsklitterung von rechts wie von links entgegenzutreten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

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